„Nighttime Showtime“ von Joseph Hernandez. Tanz: Mikhael Kinley, Renata Peraso, Victor Ketelslegers, Lucas Axel, Kate Gee, Juliano Toscano

„Nighttime Showtime“ von Joseph Hernandez. Tanz: Mikhael Kinley, Renata Peraso, Victor Ketelslegers, Lucas Axel, Kate Gee, Juliano Toscano

Neukreationen am Puls der Zeit

„Made for us“ am Staatstheater Nürnberg

In der dritten Ausgabe von „Made for us“ verpassen Bryan Arias und Joseph Hernandez dem Staatstheater Nürnberg Ballett eine herrlich-chaotische Portion Skurrilität.

Nürnberg, , 29/06/2022

So schnell bringt eine Pandemie junge kreative Wilde nicht aus dem Gleichgewicht. Mitte April erst hatte Ballettchef Goyo Montero im großen Opernhaus den verschobenen Dreiteiler „Naharin/Clug/Montero“ nachgereicht und darin die chamäleonhafte Vielseitigkeit und stilistische Flexibilität seines Ensembles unter Beweis gestellt – in Stücken, die zuvor schon anderswo uraufgeführt worden waren. Jetzt – nur zwei Monate später – präsentierte das Staatstheater Nürnberg Ballett noch eine, diesmal zweiteilige Premiere: „Made for us III“, maßgeschneidert für das kleinere Schauspielhaus. Sie wurde zum schier wahnwitzigen Spielzeitausklang und ist noch bis 17. Juli zu sehen. Ein schräger, aber ebenso berührender Tanzabend, den man gerade wegen seines cocktailhaften Mix unbedingt erleben sollte. Offeriert wird eine breite Palette an Ausdruckswerkzeugen, derer sich die tänzerisch formidabel trainierten Interpreten schlichtweg aufs Beste zu bedienen wissen. Wieder einmal.

Der Abend besteht aus zwei eigens von Bryan Arias und Joseph Hernandez mit den Tänzer*innen entwickelten Neukreationen. Beide Choreografen gehören der sogenannten „neuen Generation“ an, der man in Nürnberg mit der 2014 begründeten Reihe „Made for us“ eine professionelle Plattform bietet. Hier kommt es gerade auf Experimente im Fortschreiben des zeitgenössischen Tanzes an. Ganz nebenbei werden dabei Begegnungen zwischen Künstlern herbeigeführt, die sich – und das Ensemble sowieso – bislang noch gar nicht kannten. In den ersten beiden Ausgaben stellten jüngere Talente wie Douglas Lee, Cayetano Soto, Jiří Bubeníček und Jeroen Verbruggen brandneue Arbeiten vor. Nun forderten der Puerto-Ricaner Bryan Arias, der in New York City aufwuchs, und der oft von Genre zu Genre wechselnde US-Amerikaner Joseph Hernandez nicht bloß die Protagonisten, sondern zugleich das Publikum auf vielschichtige und ungewöhnlich unterhaltsame Art heraus.

Dass sich ihre Stücke letztlich unterwartet gut ergänzen und sogar diverse Gemeinsamkeiten aufweisen, ist angesichts der eigentlich diametralen Gegensätzlichkeit ihrer Handschriften und Inszenierungen erstaunlich. Dennoch bündeln sich am Ende derart viele Kuriositäten, Intimitäten und Spiel-im-Spiel-Facetten, dass der Zuschauer das Theater irgendwie homogen-stringent erfüllt wieder verlässt, zudem bereichert durch das originelle und ruhig seinen Lauf nehmende Fortspinnen von Versatzelementen der Commedia dell’Arte bei Arias, das Hernandez nach der Pause mit einem dynamischen Durcheinander aus Tanz und Sprache ergänzt. Grandios inszeniertes Chaos, das in Metaebenen um Kunst – deren Erschaffung, Vermarktung und Rezeption – kreist.

Als Titel hat Bryan Arias, dessen programmatische Choreografie den Auftakt bildet, passend zum patchworkartigen Inhalt „The last Coincidence“ gewählt. Seine Bühne ist bis auf die Brandmauer leer. Im Halbrund verteilt hocken fünf Tänzer*innen am Boden. Die Haltung, wie sie das tun, lässt mutmaßen, dass eben eine Katastrophe über sie hinweggerauscht sein muss. Durch die Drehbühne gerät die Truppe – quasi fremdgesteuert und anfangs selbst immobil – in Bewegung. Dieser Eindruck des räumlichen Verschobenwerdens wiederholt sich anschließend noch öfter. Dazwischen ergreifen die Protagonist*innen die Initiative. Sie geben sich resolut, ganz so als stünde ihnen etwas Bedeutsames bevor beziehungsweise als befände sich ihr Team mitten in einer Probensituation.

Farbig wie die Geschichten, die uns präsentiert werden, ist auch die musikalische Collage von Songs, die sie an- und umtreiben. Ausschnitte aus Live-Konzerten von Duke Ellington fungieren dabei als Scharnier. Nach viel anfänglichem Gestikulieren, Beschwichtigen und mimischem Diskutieren kommt schnell Discofieber-Stimmung auf. Mit Tanzformationen, die abgebrochen werden, kurz nachdem sie richtig in Schwung geraten, legt das Stück an Tempo zu. Richtig klar darüber, worauf das alles letztlich hinausläuft oder wozu es gut ist, soll man sich – aus Prinzip – bis zum Ende gar nicht werden.

Anders als bei „Nighttime Showtime“ von Joseph Hernandez, wo sich alle einmal mehr prominent ins Geschehen hineingrätschen, tragen die Figuren bei Arias keinerlei Rollennamen. Dafür, dass jeder in seinem Charakter erkennbar bleibt, sorgen die vom Choreografen persönlich – großteils aus dem Theaterfundus – zusammengesammelten Kostüme. Markanter Hingucker und famoses, die Körperproportionen schön verfremdendes Objekt obenauf sind die riesigen, den echten Gesichtern der Tänzer nachempfundenen Maskenköpfe.

Mit der Zeit kristallisiert sich allerdings heraus, dass diese überdimensionalen Kopfmasken für das Quintett aus Offizier (Kade Cummings), Braut (Sofie Vervaecke), Magier (Oscar Alonso), Columbine/Puppe (Paloma Lassere) und dickbäuchigem Mann (Andy Fernández) auch nur die Bedeutung eines bloßen Requisits haben, dessen man sich ab und an entledigen kann. Schlussendlich, nach mehreren blähkopffreien Soli und intimen Braut-Mann Episoden, obsiegt die Tragik. Sofie Vervaecke bricht ihr Tanzen ab, schüttelt die Unterarme und lässt ihren Körper einem ausgekommenen Ball gleich aushüpfen. Dann richtet sie, während sie langsam zu Boden fällt, mehrmals den Blick direkt ins Publikum. Tot ist die Braut.

Die Regie schaltet von gedimmter Performance-Beleuchtung auf helles Arbeitslicht um. Vervaeckes Bühnenkollegen brechen lautstark in Begeisterung aus: „Oh, echt toll!“ Als Zuschauer*in kann man sich ratlos-erheitert-verblüfft von solch humorvoll-hintergründigem „Making-of“ und unzähligen Momenten des „Dazwischen“ nur dem Jubel anschließen.

Ursprünglich waren sowohl „The last Coincidence“ als auch Hernandez’ aus dem breiten Pool von Show-Bestandteilen inspiriertes „Nighttime Showtime“ zu einer Neukomposition von Johannes Till für die Spielzeit 2019/2020 vorgesehen. An der früheren Themenwahl zu rütteln, kam trotz der langen Verzögerung niemandem in den Sinn. Der pandemiebedingt spektakelentwöhnte Zuschauer mag sich ob einer derartigen Masse von Gleichzeitigem glatt überfordert fühlen, gedanklich jedem Detail auf den Grund zu gehen, bevor der nächste Szenenmix aus unterschiedlichen Tanzstilen vorüberzieht oder einer der beiden wortgewandten Moderatoren erneut um Aufmerksamkeit buhlt.

White Suite (Victor Ketelslegers) und Black Suite (Andy Fernández) sind zwei miteinander in Konkurrenz tretende, äußerst präsente Gestalten. Tolle Darsteller, die ihr Publikum als Konsumenten in die Pflicht nehmen, obwohl deren Zufriedenstellung Ziel des 50-minutigen Panoptikums sein könnte. Genau darum, das zu hinterfragen, geht es – anfangs in einer vor einem glitzrig-blauen Vorhang auf der linken Bühnenhälfte das Stück einleitenden Talkrunde. Etwas weiter hinten rechts ist auf einem riesigen Plakat zu lesen: „What is the Value of Art“.

Der Fokus in Hernandez’ Inszenierung in der Inszenierung liegt definitiv auf den ebenfalls auf das Banner gedruckten „Circumstances“. Manchmal sieht es freilich mehr danach aus, dass man Vorbereitungen und Warm-ups zu irgendeinem angesagten, sportlich-künstlerischen, medial gut ausschlachtbaren Wettbewerb beiwohnt. Jedenfalls ist alles schön bunt. Es wird posiert, gerappt, im Duo Breakdance getanzt, Varieténummern heraufbeschworen und neben zeitgenössischem Ensemble-Feeling à la Forsythe mit viel technischem Background auch Ballett paraphrasiert. Das könnte mit der Zeit langweilen, tut es aber nicht.

Insgesamt werden rund um zahlreiche solistisch rampenstarke Momente alle Kompaniemitglieder (bis auf zwei, die krankheitsbedingt am Premierenabend ausfallen mussten) in einen Ablauf häufig paralleler, neben- oder hintereinander zündender Aktionen eingebunden. In sich total verschachtelt ist „Nighttime Showtime“ laut Programmheft auch deshalb, weil den Choreografen an seinem Ausgangspunkt Italo Calvinos Metaroman „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“ stimuliert hat. Das Stück stellt gewiss eine von vielen Möglichkeiten dar, über Tanz im Tanz zu sprechen. Hernandez’ Experiment schießt dabei weit über das Ziel hinaus. Und das absichtlich. Permanent wird mit Erwartungshaltungen gespielt und neben den Lachmuskeln auch unser Denkzentrum im Unterbewusstsein angeregt. Tanzen fungiert hier als wunderbares Stilmittel – prominent und bizarr eingesetzt als pars pro toto. Gerade das macht diese dritte Ausgabe von „Made for us“ inhaltlich so überzeugend.

 

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