„commonnorm“ von TachoTinta.

„commonnorm“ von TachoTinta.

„I don´t care, motherfucker!”

Köln-Premiere beim (Rh)einfach-Festival von TachoTintas aktueller Produktion

Das Kollektiv TachoTinta spielt seit längerem mit der Form von Normalität. Mit der aktuellen Choreographie „commonnorm“ in der Tanzfaktur Köln wird sie zur Illusion erklärt.

Köln, 06/10/2022

Alles verspricht ein normaler Tanzabend zu werden: Menschen treffen kurz vor 20 Uhr ein, um sich noch ein Getränk zu holen. Blicke werden ausgetauscht, nachdem an die Maskenpflicht erinnert wird. Das Tanzstudio entspricht mit Tribüne und Blackbox der Normalität einer Bühnensituation. Das anhaltende Gemurmel, das durch ein zu erwartendes Raunen ersetzt wird, als plötzlich mit der Dunkelheit des Raums gebrochen wird.

Ein beleuchtetes rechteckiges Element bewegt sich schwebend durch den Raum. Immer wieder tauchen Tänzer*innen dahinter auf und positionieren sich an den Kanten. Sobald sich das Auge an den zunächst abstrakten Moment gewöhnt, entsteht eine scheinbar reale Alltagssituation, bei der man aus der Vogelperspektive eine Begegnung von Personen an einem Tisch beobachtet. Solche irreführenden Bilder bestimmen die Ästhetik des Abends. Sie zwingen das Publikum regelrecht dazu ihre Sehgewohnheiten zu überprüfen: eine symbolische Einladung sich mit an den Tisch zu setzen, um über Vorstellungen von Normalität mitzuverhandeln.

Nach der Premiere am 5. September bei der Koproduktionsstätte Ringlokschuppen Ruhr, feiert die Produktion nun die Köln-Premiere am 4. Oktober innerhalb des „(Rh)einfach Festivals“ in der Tanzfaktur Köln. Bereits bei ihrem letzten Stück „Misdirection“ beschäftigte sich das choreographische Trio TachoTinta mit Stereotypen von Normalität. Gemeinsam mit den beiden Tänzer*innen Jeff Pham und Mira Plikat treffen nun in „commonnorm“ fünf Personen mit unterschiedlichen Vorstellungen von Normalität aufeinander. Es entsteht der Versuch eine Einstimmigkeit der Gruppe zu finden. Alle verbindet der gleichbleibende Beat (Komposition: Vincent Michalke) zu dem individuelle Bewegungspatterns entstehen, die voneinander beobachtet und aufgenommen werden. Die stetige Ausführung des Patterns lässt die zunächst unbekannte Bewegung immer mehr zur Normalität werden. Schließlich etabliert sich eine Realität mit eigenen Regeln und Normen. Die Wiederholbarkeit zwingt die anderen zu einem wackligen Tanz von Verstehen und Missverstehen dieser Realität. Die Vorstellung von Normalität hilft dabei Sicherheit in diesem temporären Universum zu finden. Doch nachdem der Beat aussetzt, hört man anhand des schweren Atems, welcher Anstrengung die Tänzer*innen ausgesetzt sind, sobald sie versuchen sich einem etablierten Normalzustand zu unterwerfen.

Allgemeinhin gilt ein Normalzustand als etwas Selbstverständliches, was keine Fragen aufwirft und nicht erklärt werden muss. Das komplette Stück strukturiert sich als ein Wechselspiel aus Herstellung von Normalität und deren Dehnbarkeit. Daraus folgend kommen doch Fragen auf und das Gehirn sucht nach Erklärungen. TachoTinta entlarvt die Zerbrechlichkeit dieser Normalität. Mit nur einer kleinen Veränderung kann eine robust geglaubte Normalität zerstört werden. Innerhalb eines Tableau vivants präsentieren sie bekannte sowie ikonographische Bilder aus dem Alltag. Auf bemerkenswerte Weise verformen sich die Anordnungen, aufgrund ihres Tempos fast unmerklich, bis die Bilder ihres Normalzustandes beraubt sind. Verfremdet werden die Bilder vor allem mit Hilfe der blauschimmernden Faltenröcke (Kostüm: Lola Predator & Bianca Lux), die es ermöglichen die körperlichen Proportionen zu dekonstruieren. Die langsamen Bewegungen unterstreichen, wie zäh sich die Vorstellungen von Normalität verändern lassen.

Doch resultiert aus einer veränderten  direkt die nächste Normalität? TachoTinta wagt einen Blick in die Zukunft, formuliert über Voiceover zuerst stereotypische Gegenwartssituationen – 13 Uhr Mittagessen – und sagen dann voraus, dass alle irgendwann nur noch eine Sprache sprechen. Eine weitere Stimme erinnert sie daran, in der Zukunft wohl auch nicht klüger zu sein und der nächsten Normalität in die Arme zu laufen. „I don´t care, motherfucker!“ Die Reaktion der Tänzerin Mijin Kim lässt eine visionäre Energie entstehen, ein Verlangen die bisherige Normalität dennoch zu hinterfragen. Getrieben von der pulsierenden Musik werden vorherige Patterns aufgegriffen, in ihrer Ausführung noch einmal intensiviert. Der Raum scheint seine physikalischen Kräfte zu verlieren. Die Körper laufen nicht mehr, sondern schweben über den Boden; zur Erklärung: Es befinden sich Rollen unter den Schuhen. Unermüdlich wird der Körper für eine Veränderung im Raum eingesetzt. Die revolutionären Zustände verlangen danach den Bühnenraum zu verlassen, doch bleiben, wie an einem Käfiggitter, hängen. Der Inszenierung gelingt es an dieser Stelle nicht, die Energie ins Publikum zu übertragen und die Kraft der Veränderung verpufft.

Schlussendlich bleibt es eben ein total normaler Tanzabend. Manche inspiriert es danach noch bei einem Getränk über die Thematik zu philosophieren. Andere fühlen sich nur an ihre Normalsterblichkeit erinnert und wollen nach Hause. Normalität eben.

 

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