„Cantata“ von Mauro Bigonzetti, Tanz: Egon Madsen, Gauthier Dance

Gala für einen ganz Großen

Im Stuttgarter Theaterhaus feierte Egon Madsen seinen 80. Geburtstag und 70 Jahre Tanzkunst auf der Bühne

Er gehört zu den „Fantastischen Vier“ des Stuttgarter Ballettwunders: Egon Madsen. Und immer noch überzeugt er mit seiner Präsenz und seiner Hingabe auf den Brettern, die auch für ihn die Welt bedeuten.

Stuttgart, 10/10/2022

Egon Madsen – dieser Name ist unverbrüchlich mit John Cranko und dem „Stuttgarter Ballettwunder“ verbunden, das seit den 1960er Jahren dem Tanz in Europa und der Welt zu neuer Geltung und einem bis dahin nicht vorstellbaren Aufschwung geführt hat. Cranko hat dem feingliedrigen Danseur noble aus Dänemark großartige Rollen auf den Leib choreografiert: Mercutio in „Romeo und Julia“, Lenski in „Onegin“, Gremio in „Der Widerspenstigen Zähmung“ und natürlich den Joker in „Jeux de Cartes“, um nur die wichtigsten zu nennen.

Nach seiner Zeit als Tänzer beim Stuttgarter Ballett wirkte Madsen nach 1981 vor allem als Ballettmeister und Direktor für verschiedene Kompanien: beim Frankfurter Ballett, beim Königlich Schwedischen Ballett, zwischendurch wiederum beim Stuttgarter Ballett (von 1990 bis 1996 als Stellvertreter von Marcia Haydée), bevor ihm Haydées Nachfolger Reid Anderson auf wenig noble Weise klarmachte, dass er nicht mehr gebraucht würde. Später holte ihn Uwe Scholz als Ballettmeister zum Leipziger Ballett, und wiederum ein alter Bekannter aus Stuttgart, Jiri Kylian, engagierte Madsen von 2000 bis 2007 als Mitglied und Künstlerischen Leiter des legendären Nederlands Dans Theater III für Tänzerinnen und Tänzer über 40, das unter seiner Leitung weltweit Erfolge feierte, bevor es aufgrund von Geldmangel aufgelöst wurde. Seit 2007 hat Madsen mit Gründung von Gauthier Dance am Stuttgarter Theaterhaus eine neue Heimat gefunden – mit Eric Gauthier verbindet ihn eine enge Freundschaft, er arbeitet regelmäßig mit dessen 20-köpfiger Kompanie. Und so war es nur konsequent, dass das Theaterhaus aus Anlass dieser zwei bemerkenswerten Geburtstage – 80 Jahre Leben und 70 Jahre Bühnenleben – eine kleine Gala ausrichtete.

Eric Gauthier führte mit dem ihm eigenen Charme durch den vierstündigen Abend, der ebenso abwechslungsreich wie bewegend und lehrreich war. Er begann mit Filmausschnitten aus früheren Dokumentationen des Süddeutschen Rundfunks über die Cranko-Zeit, die einen nostalgischen Blick hinter die Kulissen einer großen Zeit an den Württembergischen Staatstheatern erlaubte.

Alice McArthur und Mitchell Millhollin aus der John Cranko Schule zeigten einen kleinen Pas de Deux aus „Die Schöpfung“ von Joseph Haydn in der Choreografie von Uwe Scholz – auch einer der Choreografen, der aus der Stuttgarter Wiege hervorgegangen und leider viel zu früh verstorben ist. Die beiden tanzten diesen schwierigen Part mit großer Hingabe und zeigten einmal mehr das hohe Niveau und die feine Tanzkunst, die weiterhin an der Schule gepflegt wird.

Friedemann Vogel, Kammertänzer und Solotänzer im Stuttgarter Ensemble, erwies Madsen seine Reverenz mit einem Solo aus „Brouillards“, das Cranko 1970 eigens für Egon geschaffen hatte, gefolgt von einem feurig-verführerischen Pas de Deux von Nacho Duato, den zwei der vier „Juniors“ von Gauthier Dance mit beachtlicher Verve auf die Bretter legten.

Danach erst mal wieder ein historischer Filmbeitrag über „The Cranko Time“ – und man wünscht sich spontan sehr viel mehr solches Anschauungsmaterial, aus dem auch ein sehr schöner Beitrag über Egon Madsen selbst vom SWR produziert wurde: „Egon Madsen – Joker der Tanzwelt“ – ein Film, der gerne doppelt oder dreimal so lang hätte sein dürfen …

Vor der Pause dann noch der erste Höhepunkt des Abends: „The Old Man and Me“, ein Pas de Deux von Hans van Manen mit Egon Madsen selbst als zutiefst berührender „old man“ und der wunderbaren Milena Twiehaus, deren großartige Performance umso bewundernswerter war, als sie erst ein halbes Jahr zuvor Mutter geworden war …

Zu Beginn des zweiten Teils plauderten Weggefährt*innen mit Egon über gemeinsame Erinnerungen: Birgit Keil, die zeitlos schöne und elegante Primaballerina und wie Egon neben Marcia Haydée und Richard Cragun Bestandteil des vierblättrigen Kleeblatts der großen Stuttgarter Stars; Tamas Detrich, der Intendant des Stuttgarter Balletts; Ivan Cavallari, gebürtiger Italiener, früherer Solotänzer in Stuttgart und seit 2017 Ballettdirektor der Grands Ballets Canadiens de Montréal; Mauro Bigonzetti, Egon Madsens Nachbar in Italien, wo er ein zweites Zuhause gefunden hat, und Choreograf seines großartigen Solo-Abends „Egon King Madsen Lear“, der am Stuttgarter Theaterhaus vom 25. bis 27. November noch einmal gezeigt wird; Friedemann Vogel als aktueller Vertreter des Stuttgarter Ensembles und natürlich Eric Gauthier als Moderator.

Zwei Beispiele aus der Cranko-Zeit zeigten dann allerdings augenfällig, dass zu einem großen Tänzer mehr gehört, als die Schritte richtig zu setzen. Weder Alessandro Giaquinto als Gremio und schon gar nicht Adhonay Soares da Silva als Lenski konnten auch nur ansatzweise die Bühnenpräsenz und die Intensität erreichen, die einem Egon Madsen als Tänzer absolut selbstverständlich eigen war. Und man fragt sich kopfschüttelnd, warum um alles in der Welt die Intendanz des Stuttgarter Balletts eigentlich darauf verzichtet, Egon Madsen, der ein begnadeter Ballettmeister und Coach ist, für die Einstudierung dieser für das ganze Ensemble so wichtigen Cranko-Rollen ans Haus zu binden. Immerhin lebt er noch. Und er könnte den jungen Tänzerinnen und Tänzern so viel an Wissen und Können vermitteln …

Wie gut es einem Ensemble tut, mit einem so weisen und erfahrenen Instrukteur und Ratgeber zu arbeiten, zeigte nicht nur das fulminante Solo „ABC“ von Shori Yamamoto, das Eric Gauthier 2019 für seine Kompanie schuf, in dem das ABC des Tanzes auf ebenso schmissige wie humorvolle Weise erzählt wird. Gerade im großen Finale des Abends führte Gauthier Dance mit Mauro Bigonzettis „Cantata“ gemeinsam mit den vier grandiosen Musikerinnen der Gruppo Musicale Assurd vor Augen, was die innere Qualität des Tanzes ausmacht: Sie legten alles, wirklich alles, in diese mitreißenden Rhythmen, wessen sie fähig sind. Um zum Schluss ihn auf die Schultern zu heben, dem sie diese Qualität zumindest mit verdanken: Egon Madsen, den großen Bühnenkünstler, den ewigen Komödianten mit dem großen Herzen, den wunderbaren Menschen. Möge er der Tanzwelt noch lange erhalten bleiben!

 

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