„EGON king MADSEN lear“ von Maura Bigonzetti. Mit: Egon Madsen

„EGON king MADSEN lear“ von Maura Bigonzetti. Mit: Egon Madsen

Essenz eines langen Lebens

„EGON king MADSEN lear“ im Stuttgarter Theaterhaus uraufgeführt

Die Kreation von Mauro Bigonzetti für Egon Madsen ist die Krönung eines großen Tänzerlebens und eine sehr stimmige Interpretation des berühmten Shakespeare-Dramas.

Stuttgart, 23/01/2020

Wer, wenn nicht er? Und wann, wenn nicht jetzt? Egon Madsen, dieser grandiose Tänzer des legendären Stuttgarter Ballettwunders aus den späten 1960er Jahren, inzwischen 77 Jahre alt, ist bekannt für seine zwingende Bühnenpräsenz, sein sprechendes Gesicht, seine starke Ausdruckskraft. „Egon braucht nur auf der Bühne zu sitzen, und es stimmt alles“, sagte Theaterhaus-Intendant Werner Schretzmeier einmal über Egon Madsens Fähigkeit, einen Raum zu füllen. Madsen als King Lear – das war eine gemeinsam unter Freunden geborene Idee im Anschluss an die Gala zu Egons 75. Geburtstag im Theaterhaus (damals hatte Bigonzetti für Egon das „Solo 7557“ kreiert). In den italienischen Marken nahm sie dann konkrete Formen an, im Dialog zwischen Egon und Mauro, die dort einen Steinwurf auseinander wohnen.

„Für mich schließt sich hier ein Kreis“, sagt Egon Madsen im Vorgespräch zur Premiere. „Ich kann all die Erfahrungen einbringen, die ich im Laufe meines langen Lebens gesammelt habe. Ich habe Shakespeares Version gründlich gelesen und mich darin wiedergefunden. Das erste, was Mauro sagte, war: Am wichtigsten ist die Art, wie Du gehst.“ Anfangs habe er gedacht, er müsse sich noch älter machen und noch gebrechlicher wirken mit seinem Gang, aber das habe er schnell wieder gelassen. Er sei nun mal ein alter Mann, er gehe von selbst in der richtigen Art und Weise. Natürlich sei es gerade für ihn als Tänzer gewöhnungsbedürftig gewesen, so halbnackt vor dem Publikum zu stehen, der Körper gezeichnet von den gelebten Jahrzehnten: „Aber das hat sich schnell gelegt, auch die Eitelkeit. Hier hängt ein bisschen was, und da – das ist egal. Ich muss mich zeigen, wie ich bin. Ohne Hemmungen. Das habe ich geschafft, akzeptiert und verstanden. Deshalb liegt darin eine große Kraft.“ Und Mauro Bigonzetti ergänzt: „Sein Körper ist ein großes Gefäß voller Emotionen, Drama, Verrücktheiten und Leiden. Er ist etwas sehr Magisches, fast Heiliges, Spirituelles. Man kann mit dem Körper alles erzählen, es braucht dafür nicht viele Schritte, keine komplizierte Choreographie. Man muss nur entdecken, was sich damit alles erzählen lässt. Und mit dem Gesicht, den Augen, den Hände ... Bei Egon spricht alles.“

„EGON king MADSEN lear“ – das ist jedoch nicht einfach eine Kurzfassung von Shakespeares großem, in vielen Inszenierungen drei oder gar vier Stunden währendem Drama, sondern eher ein Destillat, das das Wesentliche dieser tragischen Königsgestalt herausarbeiten soll. Eines Herrschers, der eine beispiellose Machtfülle genoss, aber einen nicht minder beispiellosen Verrat und Absturz erlebte. Und tatsächlich destilliert Madsen die Essenz dieses Menschenlebens innerhalb einer Stunde heraus. Es umfasst alles, was das Schicksal dafür bereithalten kann: Einsamkeit, Schmerz, Leid, Jammer, Verzweiflung, Wut, Trauer, Verlust, aber auch Liebe, Hingabe, Zärtlichkeit, Macht, Triumph und Übermut.

Und Werner Schretzmeier hat recht: Allein wie Egon Madsen da zu Beginn in seinem wuchtigen, mit Schnitzereien verzierten Thronstuhl rumhängt, sagt schon alles über die Seele dieses Mannes, der die wesentlichen Stationen seines Lebens noch einmal durchläuft. Als Erinnerung dienen Sprachfetzen seiner Töchter, die er über Tonbänder an- und ausschaltet. Es ist Cordelia, die Lieblingstochter Lears, mit der alles beginnt und mit der auch alles endet: „Sie liebte und schwieg“ – das ist der erste Satz, der aus den Lautsprechern schallt. Und: „Nichts. Du kommst nicht wieder. Seht doch, ihre Lippen. Seht doch...“ der letzte. Dazwischen liegt ein Menschenleben. King Lears Leben. Egon Madsens Leben. Mit allen Höhen und Tiefen. Ein Leben als Spiegel einer Gesellschaft, einer Familie, der Politik.

Egon Madsen lotet das aus, mit allem, was ihm zur Verfügung steht. Er spielt den Lear nicht nur, er lebt ihn, er durchlebt ihn. Er versteht die Welt nicht mehr, die ihm so übel mitspielt. Er gibt den Selbstzweifeln Raum, aber auch der unfreiwilligen Komik, wenn er sich die Krone aufsetzt, die durch eine kleine Schelle jeglichen Respekt einbüßt. Wenn er, nur mit seinen schlabberigen Unterhosen bekleidet, die so ganz unköniglich, aber so zutiefst menschlich daherkommen, über die Bühne stapft. Egon Madsens Lear ist dennoch nie würdelos, nie peinlich, nie klamaukig. Er ist ein Mensch, der am Ende seines Lebens erkennen muss, dass all das Gerümpel um ihn herum – Carlo Cerri hat hier Holzkisten mit der Aufschrift „Zerbrechlich!“ gestapelt, halb geöffnete Schrankkoffer aufgestellt, Hocker umgestürzt und Ähnliches mehr – nichts wert ist, und dass er die Essenz des Lebens nur in sich selbst findet, woran er letztlich scheitert, weil er sich selbst Stück um Stück verlorengeht, bis nichts mehr übrig ist.

Einige Versatzstücke aus Shakespeares „King Lear“ spricht Madsen selbst. Und es ist gerade diese tiefe, leicht brüchige Stimme mit dem dänischen Akzent, die den wenigen Sätzen die Seele einhaucht, sie zum Leben erweckt. Allein, wie er seinen ersten Satz ausspricht: „Wer bin ich, Herr?“ – das atmet so viel Unsicherheit und Furcht, aber auch so viel überraschtes Staunen im Angesicht dieser Frage, das ist Gänsehaut pur. Eine Stunde lang ist es mucksmäuschenstill in der T3 des Theaterhauses – Egon schlägt alle in seinen Bann. Er zwingt zum Zuhören und Zuschauen, zum Wahrnehmen jeglicher Nuancen. Er lässt lachen und erschaudern. Und er lässt staunen über die unglaubliche Würde, die tänzerische Leichtigkeit und Behändigkeit, die er auch mit 77 Jahren immer noch zu versprühen vermag.

Für all das hat Gudrun Schretzmeier Egon Madsen ein großartiges Kostüm buchstäblich auf den Leib geschneidert: einen überlangen Strickmantel, der Symbol für alles ist, was King Lears Leben ausmacht. Er ist Schutz und Hülle für den alten Mann, Königsmantel für den Herrscher, aber auch Zwangsjacke für den in den Wahnsinn getriebenen, von seinen Töchtern Verratenen. Das Ganze wird unterstützt von der meditativ-geistlichen Musik Thomas Tallis‘ aus dem 15. Jahrhundert und den eingängigen, satten Streicherklängen von Ralph Vaughan Williams aus dem beginnenden 20. Jahrhundert.

„Den ‚Lear‘ kann man nur mit unglaublich guten Schauspielern, Tänzern und Künstlern machen – und Egon vereint alle drei in einer Person!“, sagt Mauro Bigonzetti. „Für mich war es eine besondere Erfahrung, dieses Stück mit ihm zu erarbeiten, er ist einfach eine Fundgrube ungeahnter Möglichkeiten.“ Und ein Beweis dafür, dass gute Künstler nie zu alt sind für die Bühne.
 

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