Der Ballettpianist

Biografie über George Bailey, den legendären Begleiter des Stuttgarter Balletts

Über 40 Jahre lang begleitete George Bailey Tänzer*innen beim täglichen Training, bei Proben und stand auch selbst mit auf der Bühne. Ein Künstlerleben in vielen Facetten, aufgeschrieben von Susanne Wiedmann.

Stuttgart, 21/12/2022

Er ist eine Erscheinung. Besucht er eine Vorstellung „seiner“ Kompanie im Großen Haus der Württembergischen Staatstheaters oder eine Premiere von Gauthier Dance im Stuttgarter Theaterhaus, fällt er sofort ins Auge. Immer hochelegant und auffällig gekleidet – mit großem Hut, weitem Cape, raffiniert geschnittenem Anzug, roten Schuhen. Unverkennbar: ein Künstler mit einem sicheren Geschmack für das Ausgefallene. Kein Wunder: George Bailey wäre gerne Couturier geworden, Modedesigner. Er kann zuschneiden, drapieren und nähen, seine Kreationen erinnern an Haute Couture. Er wurde dann jedoch ein Tastenkünstler, ein Musiker, ein Schauspieler, ein Choreograph und auch ein Tänzer.

Nicht von ungefähr: George wurde 1944 in eine Künstlerfamilie hineingeboren. Sein Großvater mütterlicherseits war der Geiger, Komponist und Arrangeur George Morrison, der erste afroafrikanische Musiker in Denver und bis heute als „Denver’s Godfather of Jazz“ verehrt. Seine Mutter war Pianistin und gab dem begabten Sohn schon früh Klavierunterricht. Kein Wunder also, dass George an der University of Denver Kunst und Musik studierte und dort in der Jazzband sowie im Orchester der Universität Klavier und Kontrabass spielte. Seinen Militärdienst absolvierte er in Heidelberg als Pianist des 7th Army Soldier Chorus. Mit 28 holte ihn John Cranko als Pianist und Korrepetitor 1972 zum Stuttgarter Ballett, wo er bis zu seiner Pensionierung 2013 blieb und aufgrund seines darstellerischen Talents teilweise auch in den Stücken selbst mit besetzt war, z. B. als Botschafter von Neapel in Crankos „Schwanensee“, als Assistent des Auktionators in Neumeiers „Kameliendame“, als Gräfin de Ségur in Maurice Béjarts „Gaîté Parisienne“, als Patin und gute Fee in Jean Christophe Blaviers „Cinderella“. Legendär bis heute sind seine Weihnachts-Partys im Stuttgarter Neuen Schloss und seine stets ausverkauften Konzerte im Wilhelma-Theater.

Wer George Bailey als Pianist im Ballettsaal erleben durfte, ob als Tänzer*in, Ballettmeister*in oder Choreograf*in, schwärmt bis heute von ihm. „George hat nicht nur Klavier gespielt“, wird Marcia Haydée in dem Buch zitiert. „Er hat uns verstanden. Er hat uns Kraft gegeben.“ Mit der guten Laune, die er versprühte (Haydée: „All die Jahre, die George bei uns war, hatte er nicht einen Tag schlechte Laune. Nie.“). Mit seiner Aufmerksamkeit, seiner Präzision, seinem Mitdenken, seiner Hingabe.

Und das in einer Disziplin, auf die Konzertpianisten eher verächtlich hinabschauen: Ballettpianist ist so ziemlich das Letzte, was man als Klavierkünstler werden sollte. Tänzer*innen beim Training oder bei Proben begleiten?? Das ist doch nichts für Musiker… Da kennt die Hierarchie der Musikwelt keine Gnade. Dass auch das eine Kunst ist, und zwar eine nicht zu unterschätzende, das zeigt George Bailey mehr als anschaulich. „Das Training ist das Frühstück der Tänzer“, sagte die frühere Erste Solistin des Stuttgarter Balletts, Alicia Amatriain, im Buch. „Und wenn man ein schlechtes Frühstück hat, geht alles in die falsche Richtung.“ Mit George Bailey haben die Tänzer*innen immer sehr gut gefrühstückt…

Und so ist diese Biografie nicht nur ein wunderbar anschaulicher Beweis, dass Ballett immer ein Gesamtkunstwerk ist, an dem auch der Pianist einen hohen Anteil hat. Sie ist auch ein Stück Zeitgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts. Und vor allem die Lebensgeschichte eines wunderbaren Menschen.
 

Susanne Wiedmann: „Cranko, Haydée – und ich, George Bailey“. 250 Seiten, viele Fotos, Edition Klöpfer im Kröner Verlag Stuttgart, 2021, 24 Euro

George Bailey

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