„Wellen.Flimmern“

Wirklich mutig!

Mit drei Uraufführungen an einem Abend in die neue Saison

Das Ballett in Chemnitz ist auf dem Weg zur Kulturhauptstadt

Chemnitz, 10/10/2022

Chemnitz – die Stadt der Moderne. Grundlagen dazu brachte die Wandlung zur Industriestadt, damit kamen auch die Mäzene, die Sammler, die Freunde der Kunst. In Chemnitz entstanden wichtige Bauten moderner Industriearchitektur, Kunst- und vor allem Gemäldesammlungen der damaligen Moderne. In diesem Zusammenhang erblühte auch die Theaterkunst, die Rolle des Tanzes wurde stärker wahrgenommen, Palucca und Mary Wigman setzten Akzente, bis alle diese grandiosen Aufbrüche der Kunst als entartet galten, zumal vor allem jüdische Bürger der Stadt hier wesentliche Rollen spielten.
Schon sehr bald, nach dem Ende des zweiten Weltkrieges, von dessen Verwüstungen gerade das Chemnitzer Zentrum stark betroffen war, wurde wieder getanzt, und aus Chemnitz wurde Karl-Marx-Stadt.
Thea Maaß eine Schülerin von Mary Wigman begann damit, eine neue Ballettkompanie aufzubauen. Ihr Partner war kein Geringerer als Jean Weidt, Begründer der Gruppe „Die roten Tänzer“, daher auch selbst der rote Tänzer genannt, 1933 aus Hamburg geflohen, jetzt zurück, direkt aus dem aktiven spanischen Widerstand, baut er als Vertreter neuer Formen des Tanzes dieses Ballett mit auf und setzt schon am Beginn Akzente, die für die Entwicklungen zeitgenössischer Tanzkunst wichtig sind.
Und bald können in der DDR nicht mehr nur Berlin oder Dresden den Anspruch erheben die Zentren des Tanzes zu sein. Die Blicke gehen nach Karl- Marx-Stadt, wo unter der Leitung von Hermann Rudolf sich eines der damals immer stärker wahrgenommenen Ballette entwickelt, sogar im Westen, wo man schon mal eine Kreation von ihm gerne übernimmt.
Heute ist das Ballett der Städtischen Theater Chemnitz mit 20 Tänzerinnen und Tänzern, vier Eleven-Stellen und gut genutzten Möglichkeiten für Einstiegspraktika junger Absolventen die drittgrößte Kompanie in Sachsen. Für „Gesichter der Großstadt“ von Reiner Feistel gab es 2016 den Sächsischen Tanzpreis.
Seine Nachfolgerin als Ballettdirektorin und Chefchoreografin ist Sabrina Sadowska; sie wird auch die Kompanie in das Kulturhauptstadtjahr führen. Ihr gelingt es vor allem immer wieder im Bereich der zeitgenössischen Tanzkunst durch die Verpflichtung von Choreografinnen und Choreografen der jüngeren Generationen Höhepunkte zu setzen.
Zudem gelang es ihr, Formate zu begründen, ohne die man sich das Tanzgeschehen in Chemnitz nicht mehr denken könnte. „Showcase“ heißt eines, bei dem die Mitglieder der Kompanie und das Publikum im Ballettsaal in großer Nähe miteinander Prozesse tänzerischer Kommunikation erleben können.
Und das jährliche Festival „Tanz-Moderne-Tanz“ möchte man nicht mehr missen, stellt es doch durch konzeptionell gut verpflichtete Gastspiele aus aller Welt das Chemnitzer Ballett in spannende Dialoge, öffnet Horizonte der Wahrnehmung beim Publikum, erkundet zudem immer wieder neue Räume und Orte für den Tanz in der Stadt.
Diese Formate werden auch in der aktuellen Saison wieder das Publikum anziehen. Ebenso sicher ein Märchenballett für die ganze Familie: „Elis und die wilden Schwäne“ nach einem Märchen von Hans Christian Andersen.
Das nächste Ballett in dieser Spielzeit choreografiert Sabrina Sadowska ebenfalls nach einem Märchen in bekannter Ballettfassung: „Cinderella“ von Sergej Prokofjew. Ihr Aschenputtel allerdings wird seinen Prinzen im Deutschland der Nachkriegszeit finden. Falls sie ihren Schuh nach dem Ball auf dem Laufsteg verliert und er ein Dressman ist, könnte das so sein, denn es geht um die Sehnsucht nach modischem Glitzer in der Flucht vor dem grauen Alltag.

 Aktuell aber, ganz und gar nicht märchenhaft, und schon gar nicht auf der Flucht vor dem Alltag: „Wellen.Flimmern“. Ein Ballettabend, drei Uraufführungen, mit dem die Reihe der Tanzpremieren dieser Saison eröffnet wird.
Es beginnt ungewöhnlich: „How The Body Works in The Dark“ heißt die Kreation von Martin Harriague aus Frankreich. Ungewöhnlich ist, dass er uns mit drei Tänzerinnen und drei Tänzern in die Tiefe führt, in die Dunkelheit eines Stollens, der wahrscheinlich auch so in einsamer Verlassenheit sich unter der heutigen Stadt Chemnitz befinden könnte. Das ist zunächst die reine Melancholie in schwarz. Tanz im Staub. Und dann, vom Autor Derrick C. Brown gesprochene Texte, in dem es auch darum geht, wie Körper sich die Dunkelheit erarbeiten. Werden hier Geister der Vergangenheit beschworen? Vergessene, gute Geister? Lässt der Tanz sie erlebbar werden? Auf jeden Fall erinnern die Gebetsgürtel an den Kostümen zweier Tänzer daran, dass es eben einst auch jüdische Bürger waren, deren Engagement sich die industrielle und vor allem auch die künstlerische Entwicklung in Chemnitz verdankte und verdankt. Es ist vor allem die kraftvolle Energie, mit der die Tänzerinnen und Tänzer gegen das Vergessen antanzen, keine Flucht, vor allem.
Ein Podium eines risshaft geöffneten Kreises auf der Bühne von Hans Winkler beherrscht die Szene der Kreation von Andonis Foniadakis aus Griechenland: „Rifts / Risse“. Ist es für die drei Tänzerinnen und vier Tänzer so etwas wie die letzte Chance, der letzte Tanz, die letzte Minute, bevor sich dieser Kreis wieder schließt und samt den Tanzenden eingehüllt wird von einem silbern und gläsern klimpernden Schutzkreis, der sich aus der Höhe herabsenkt?
Und dazu zunächst ein Sound der Atemlosigkeit von Julian Tarride bei aufpeitschendem Tanz, angetrieben durch das Gefühl innerer Zerrissenheit. Und dann, welch Wechsel, musikalisch, tänzerisch, ein melancholischer Hoffnungsschein, die Stimme von Meredith Monk, ihr „Last Song“: Letzte Chance, letzter Tanz, letzte Minute … Nach der atemlosen Hoffnungslosigkeit des tanzenden Widerstandes die zärtliche Zerbrechlichkeit dieser Kunst absoluter, körperlichen Authentizität.
Und dann, in der dritten Choreografie, „The Perfect Land 3022“, von Erion Kruja aus Albanien, der einige Jahre in Chemnitz tanzte, zu eigener Musik, die ganze Kompanie, geballte Kraft, tanzender, stampfender Roboter zum passenden Sound in Dauerschleife.
Ist dieser Tanz in seinen sich unglaublich steigernden Wiederholungen, in der ebenso unglaublichen, körperlichen Dynamik dieser fantastischen Tänzerinnen und Tänzer am Ende doch so etwas wie ein Protest gegen alle äußeren Vorgaben auf dem eben noch mindestens 100 Jahre währenden Weg des Erfolges in ein perfektes Land? Ja, das mag Ironie sein. Aber es spiegelt nicht zuletzt alltägliche Erfahrungen in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen, politisch, persönlich, materiell.

Dass alle drei Uraufführungen mitunter konzeptionell wohl etwas stärker sind als die choreografische Umsetzung ist am Ende kein Problem. Die Tänzerinnen und Tänzer bringen letztlich immer wieder zusammen, was zusammengehört. Beste Voraussetzungen für Tanz in Chemnitz auf dem Weg zu einer europäischen Kulturhauptstadt.     

 

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