Körperliche und räumliche Grenzen auflösen – die Sehnsucht nach Berührung

ROSE LA ROSE von Jüngst/ Rykena im Video-Stream von Kampnagel Hamburg

Die beiden Choreografinnen Carolin Jüngst und Lisa Rykena erforschen in ROSE LA ROSE mit den Peformer:innen Amelia Cavallo und Tian Rotteveel die Beziehung zwischen Sprache und Bewegung. Die von Beginn an präsente Audiodeskription von Ursina Tossi bietet nicht nur leichteren Zugang zum Stück für blinde und sehbehinderte Menschen, sondern bringt auch eine starke künstlerische Ebene mit ins Spiel.

Hamburg, 10/03/2021

von Jenny Mahla

„Ich habe einen muskulösen, schlanken Körper. Und heute Abend trage ich eine kurze, rote Sport-Shorts mit einem dicken Frottee-Bund, der ist so ein bisschen übertrieben. Das fühlt sich aber sehr weich an und kuschelig.“ Mit diesen Worten beschreibt Ursina Tossi zunächst sich selbst. Denn zum Auftakt der knapp 80-minütigen Performance bekommen wir nicht nur den Raum, sondern auch die Körper der Performer:innen sowie ihre Kleidung mittels sinnlichen bis politischen Details beschrieben. Der Bildschirm wird dabei immer wieder schwarz. Im Theater hätten wir die Augen schließen müssen – es wäre eine Entscheidung gewesen, sich darauf einzulassen oder im potentiell Gewohnten zu bleiben. Hier wurde das Format, der Umstand, dass die Zuschauenden es derzeit nur über den YouTube-Stream des Produktionshauses Kampnagel sehen konnten, höchst wirksam ausgeschöpft. Unser Blick wird nicht nur gelenkt, er wird in vielerlei Hinsicht ausgerichtet. Die Entscheidung wann wir wohin schauen und worauf wir uns innerhalb des Stücks visuell konzentrieren, ist ob der Tatsache, dass wir zu Hause vorm Laptop sitzen und sehen, was abgefilmt wurde, nicht gegeben und so bauen Jüngst und Rykena diesen Umstand dramaturgisch konsequent weiter aus.

Wir sehen das Stück durch Ursinas Augen. Ihre Wahrnehmung, übertragen in eine teils englische, teils deutsche verbale Beschreibung, wird zu unserer Teilhabe. Und das ist ein Privileg, denn sie kann tatsächlich teilhaben. Sie kommt den Tänzer:innen nahe, kann sie riechen und die Wärme der Körper spüren. All das beschreibt sie scharfsinnig und liebevoll für uns. Doch wir bleiben draußen. Trotz kurzer Momente der Nähe behalten wir und eben auch Ursina, eine Außenperspektive. Ihr Kameramann wurde von Anfang an mit in die Szene einbezogen – in seiner Erscheinung beschrieben und wenn die Einstellung auf eine Totale wechselt, sehen wir ihn sich auf der Bühne mit der Kamera in der Hand bewegen. Auch eine wichtige und ehrliche Ebene, die entblößt und genutzt wird, um das Spiel der Perspektiven aufzufächern.

Mit dem Gefühl und der Sehnsucht dabei zu sein, wird durchgängig in ROSE LA ROSE gespielt, und auch das künstlerische Team hatte, ob der pandemischen Bedingungen, erschwerte Probenbedingungen. Mit der in London festsitzenden Performerin Amelia Lander-Cavallo probte das Team über Sprach- und Videoaufzeichnungen. Herausgekommen ist ein Archiv von Handyvideos, die einen vertraulichen Blick ins Private geben. Die unverblümte Körperlichkeit, die auf angenehme Weise nebenbei auch normative gesellschaftliche Bilder widerlegt und die Intimität dieser Videos, sind ein gelungenes Beispiel, wie mittels Vulnerabilität und Offenheit, Nähe trotz Distanz und hybrider Formen entstehen kann.

Auf einem rollbaren Flachbildschirm immer wieder Teil der Szene in Hamburg werdend, entsteht darüber hinaus eine klare konzeptuelle Verbindung zwischen Amelia und den anderen Performer:innen. Das Material des kuscheligen Pullovers von Tian Rotteveel beispielsweise, welches wir zu Beginn des Stücks gesehen und beschrieben bekommen haben, scheint noch für ein Oberteil von Amelia gereicht zu haben und so entstehen neben dem Bewegungsvokabular auch visuelle Referenzen aus der stilbewussten Hand der Kostümbildnerin Hanna Scherwinski. Dass ein großer Bildschirm für die Anwesenheit einer Performerin herhalten muss, hätte uns im Jahr 2019 vielleicht noch mehr irritiert, doch die harten schwarzen Kanten des Monitors werden szenografisch von einem runden hellem Podest und einem organisch geschwungenen Vorhang abgefangen. Dieser sanfte weiße Vorhang in der Bühne von Lea Kissing schafft einerseits intime, abtrennbare Bereiche und strukturiert das Stück auch räumlich, anderseits wird er selbst zum Element der Bewegung und wurde uns gleich zu Beginn als uterus-förmig angepriesen. Davon sehen wir aus unserer Perspektive leider nicht all zu viel, aber es unterstützt das geheimnisvolle und erotische Konzept aus Körpern und Stimmen.

Dieses Spiel aus Sehen und Hören der Bewegungen wird hin und wieder von konkret verbalisierten inhaltlichen Visionen bereichert. Es geht darum, wie wir uns in Zukunft bewegen, wie wir laufen und uns fortpflanzen. Denn auch wenn wir nicht wissen, was wir als Nächstes tun sollen, dreht sich alles um Liebe und Reproduktion, um Solidarität und Beteiligung, so teilt Ursina ihre Gedanken mit uns über das Mikrofon. Dass sich das auf die Inszenierung genauso wie auf unseren gesellschaftlichen Standpunkt bezeichnet, wird deutlich.

Auf der üppigen Reise von Szene zu Szene in ROSE LA ROSE fragen wir nicht nach den Zusammenhängen, die Situationen greifen ineinander oder stehen derart stark im Kontrast, dass keine Zeit für Hinterfragen besteht. Und auch deshalb wirken die platzierten Inhalte teils überraschend. Die simultanen Ebenen der Wahrnehmung – Sehen der Bewegungen, Hören der Musik und der Bewegungsbeschreibungen, sowie dessen Lesen – beanspruchen mentale Verarbeitungskapazitäten und mit der Gefahr der Reizüberflutung, ist ein tieferer Zugang zu den Bedeutungshorizonten und persönlichen Assoziationen zunächst erschwert. Vielleicht ist aber auch das eine Frage der Gewöhnung und ein weiterer Grund Audiodeskription besser im Tanz zu etablieren. Dass die akustische Dimension durchaus komplex werden kann, dessen schien sich das Team um Jüngst und Rykena bewusst gewesen zu sein. Klangkünstler Konstantin Bessonov, in leiblicher Kopräsenz vor Ort, unterstützt die Produktion mit sphärischer Musik, die weiß wann sie zurückhaltend und wann anregend agiert.

Ob oder inwieweit wir tatsächlich hinter unseren Bildschirmen Teil dieser forschenden Reise werden können, wird jede:r für sich beantworten müssen. Deutlich spürbar wird jedoch, dass wir derzeit alle von einer Sehnsucht nach Teilhabe geprägt sind und der Hunger nach intensiven Erfahrungen sich in körperlichen und gemeinschaftlichen Bedürfnissen zeigt.

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