„Giselle“ von Silvana Schröder, Tanz: Daria Suzi als Giselle und Filip Kvacák als Albrecht

Horror im Kinderzimmer

Silvana Schröders „Giselle“ am Theater Erfurt

Die erste Koproduktion des Theater Erfurt mit dem Staatsballett Thüringen ist ein choreografischer Psychothriller. Giselle erlebt man als Kind in den Wirren der Pubertät, gehetzt von Angstträumen und im Totentanzrausch.

Erfurt, 12/11/2018

Wer noch mal kurz in einem der üblichen Ballettführer nachgesehen hat, dürfte sich in dieser choreografischen Uraufführung des Balletts „Giselle“ von Silvana Schröder schon von Beginn an wie im falschen Film fühlen. Daher die Empfehlung: sich offen einlassen auf das, was geschieht, oder wenn überhaupt, die neu erzählte Handlung im Programmheft lesen.

Denn in Erfurt verliebt sich weder das Bauernmädchen Giselle in den Grafen Albrecht noch er in sie. Auch seine Herkunft und gesellschaftliche Stellung muss er nicht verbergen. Und weder das plötzliche Auftauchen seiner Verlobten Bathilde noch der eifersüchtige Spürsinn des Jägers Hillarion, den Giselles besorgte Mutter gerne als Schwiegersohn sähe, sind es, die Giselle dazu bringen, sich in den Wahn zu tanzen und an gebrochenem Herzen zu sterben.

Auch gibt es weder ländliches Lokalkolorit im ersten Bild, noch ein romantisches, weißes Bild mit Mysterien im Mondschein, wenn mit Giselles Tod die idealisierte, folkloristische Welt zerbricht und die der fantastischen Nachtgestalten anbricht. Es erscheinen keine Willis im Wald als tanzende Seelen betrogener Mädchen, die untreue Liebhaber in den Tod tanzen. Es gibt keine Myrtha als Königin der Willis, die Giselle in diesen Mythos einweiht, aber aufgeben muss, weil bei ihr die Liebe stärker ist als der Tod, vor dem sie den reumütigen Albrecht bewahrt, genauso wie ihre Seele vor der Macht der Willis.

Die Librettisten des 1841 an der Pariser Oper uraufgeführten Balletts mit der Musik von Adolphe Adam erhielten ihre Anregungen durch die Überlieferung der Sagen von den Willis durch Heinrich Heine. Wenige Jahre vor der Uraufführung war der Spitzentanz erfunden worden, die Variationen in dieser Technik sind in „Giselle“ von hohem Anspruch, hinzu kommen kunstvolle Facetten der Ballettpantomime. Bis heute gehören Inszenierungen, die sich auf das überlieferte choreografische Material stützen, zu den beliebtesten Balletten.

Das alles sieht in der Interpretation von Silvana Schröder auf der Bühne von Verena Hemmerlein ganz anders aus. Genaues Hinsehen ist angesagt, und Hinhören auch. Jedes der beiden Bilder beginnt mit den Klängen einer Spieluhr: „Guten Abend, gute Nacht …“ – Und dann, was ja in der Härte seiner Androhung gern überhört wird: „… morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt.“ So beginnt ein Tanz durch die Träume einer Nacht, von der man nicht weiß ob sie endet, und wenn ja, wie.

Giselle, grandios getanzt von Daria Suzi, erlebt man als Kind in den Wirren der Pubertät, gehetzt von Angstträumen, personifiziert in der Autorität der verstorbenen Mutter, die sie als schwarze Gestalt ohne Gesicht verfolgt. Das ist hier Myrtha, die sonst erst im zweiten Teil als Königin der Willis und hier von Beginn an immer wieder gespenstisch, manchmal in zehnfacher Gestalt, auftaucht.

Hillarion ist hier Giselles Bruder, der sich Sorgen um sie macht. Das kommt bei ihr gar nicht gut an. Auch Albrecht, hier ein guter Freund, in den sie hoffnungslos verliebt ist, sorgt sich um sie. Sein Tanz weckt ganz andere Gefühle bei ihr als bei ihm. Ihrem Wahn kann er keinen Einhalt gebieten, schon gar nicht, wenn Carolina Micone als sympathische Bathilde, hier auch seine Verlobte, hinzukommt, was die kleine Giselle in mörderischen, tobenden Tanz treibt. Dabei wirkt sie in ihrem Tüllrock mitunter wie eine abgedrehte, pubertierende Lolita im Totentanzrausch.

Das alles spielt in einem riesigen, sterilen weißen Raum: ein angsteinflößendes Kinderzimmer. Alles ist so groß, dass die Tänzerin Daria Suzi als Giselle darin wie ein kleines Kind wirkt. Im zweiten Teil steht alles auf dem Kopf, die schwarze Erscheinung der Mutter schwebt schon mal auf dem Stuhl thronend über dem absurden Geschehen. Giselle hat sich jetzt auch vervielfacht, und ihre gespenstigen Wiedergängerinnen mit schwarz verschmierten Fratzen hetzt sie auf ihren Bruder. Auch in ihm sieht sie ihre von Alina Dogodina mit energischem Furor getanzte Mutter.

Der nette Typ, wie ihn Vinicius Leme tanzt, muss grausam dran glauben. Giselle sticht ihn mit dem Messer ab, mit dem sie sich am Ende des ersten Teiles schon in die Füße gestochen hatte, um ihren Wahntanz zu beenden. So will sie es auch mit dem von Filip Kvačák wunderbar getanzten Albrecht machen, die furienhaften Doppeltänzerinnen stehen auf der Spitze bereit. Giselle aber verzeiht den Betrug, den es hier ja ohnehin nur in ihrem Wahn gibt. Laut Programmheft bluten jetzt seine Füße, ihre sind verletzt und verbunden. Der Tanz auf Spitze als ein Tanz auf Messers Schneide?

Wenn man meint, dieses frühreife Kind, oder vielleicht doch schon diese junge Frau, bräuchte dringend Hilfe, dem drängt sich der Verdacht auf, dass sie genau davor flieht – in den Tanz nämlich. Der führt aber nicht zur Bewältigung der Ängste, er treibt sie erst richtig auf die Spitze in dieser so eigenwilligen, wie persönlichen Sicht von Silvana Schröder auf diesen Stoff.

Ohne Spitzentanz geht es auch hier nicht. Dieser wird dramaturgisch so verblüffend wie überzeugend eingesetzt, nicht als Demonstration technischen Könnens, obwohl es schon grandios ist, was die Solistinnen und die weißen Tänzerinnen im Corps de ballet mit den Elevinnen hier leisten. Die männlichen Tänzer, schwarz verhüllt als Wiedergänger der Schreckensmutter, kommen leider ein wenig zu kurz.

Das Ganze wirkt wie ein zeitgemäßer Versuch, Ballett und Tanztheater zu verbinden. Dabei lassen sich immer wieder Variationen höchst anspruchsvoller, tänzerischer Zitate aus der Vorlage entdecken. Diese Vermischung der Stile entspricht auch dem Anliegen der Choreografin, mittels des Tanzes und der Musik einen Blick in die verwirrte Seele dieses jungen Mädchens an der Schwelle zum Erwachsenwerden zu wagen.

Leider fügt sich beim Spiel des Philharmonischen Orchesters Erfurt unter der Leitung von Takahiro Nagasaki nicht immer alles ganz glücklich zusammen. Insgesamt aber gibt diese hier entsprechend der Handlung zusammengestellte Abfolge der Klänge aus der Ballettmusik von Adolphe Adam Anstöße zur Erweiterung der Assoziationsmöglichkeiten.

Am Ende herrscht große Begeisterung beim Premierenpublikum. Sicher nicht zuletzt wegen mancher Überraschung durch die konstruktiv verunsichernde Sicht auf einen Stoff, den man eigentlich mit Sicherheit zu kennen meint.

 

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