Das Schwarze muss ins Blaue

Mario Schröder zeigt mit dem Ballett Leipzig seine Uraufführung von „Paradise Lost“

In Leipzig wird für den Ballettabend „Paradise Lost“ groß aufgefahren mit Gewandhausorchester und zwei Chören. Viel Wind unter den Flügeln von Choreograf Mario Schröder, aber gelingt es auch den Vogel zu landen?

Leipzig, 02/12/2023

Eine einsame dunkle Gestalt lässt ein Flämmchen in die Höhe schweben, wo es bald erlischt. Sie blickt auf einen großen Chor, ein zweiter sitzt links und rechts neben dem Orchestergraben. Dem visuellen Minimalismus von „Paradise Lost“ ist ab Beginn die musikalische Opulenz entgegengesetzt und die kann sich hören lassen. Auf der Bühne singen der Kinder- und der Jugendchor der Oper David Langs „The Little Match Girl Passion“, das auf Andersens Märchen vom Mädchen mit den Schwefelhölzern basiert, und vorne singt der Chor der Oper Leipzig Haydns „Missa in Angustiis“ auch bekannt als „Nelson-Messe“. Dabei wechseln sich Teile des kirchlichen Werks von 1798 mit den weltlichen kristallinen Klängen von 2007, die mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet wurden, ab. In Summe ergibt das 13 Szenen, wobei Lang das erste und letzte Wort hat, so dass der Abend musikalisch einen kompletten Kreis darstellt.

In dieses musikalische Bett pflanzt Mario Schröder seine Uraufführung von „Paradise Lost“, das mit einer Szene der Einsamkeit beginnt und in abstrakten Szenen die Ausbreitung einer Idee erzählt. Dazu hat Andreas Auerbach einen leeren Raum geschaffen mit riesigen an Baustämmen erinnernde Elemente mit Lichtschienen, die über den Abend munter in verschiedenen Konstellationen Harmonie oder Unruhe ausdrücken. Einziges wirkliches Requisit ist ein hoher Glaskasten mit einem Baum darin, der über die Bühne geschoben werden kann. Musealisierte Natur als Kristallisationspunkt.

Nach dem minimalistischen Start lässt Schröder erst einmal das gesamte Corps de Ballett auffahren. In schwarzen, umherwirbelnden Kostümen und mit kräftigen, ruhelosen, mitunter schaufelnden Bewegungen strömen sie von beiden Seiten in den dunklen Raum, kommen in Gruppen zusammen, verteilen sich wieder oder werden zu einem amorphen vielgliedrigen Schwarm. Das Individuum zählt hier zunächst nichts, und Schröder ist ein Meister darin, solche ruhelosen amorphen Menschenknäuel auf der Bühne in Wirkung zu setzen. Große Armbewegungen, selten komplette parallele Muster, sondern bewusste Asynchronitäten und Wellen, die durch diesen Menschenkörper fahren, prägen das Bild. Und dazu donnert Haydn: „Kyrie, Kyrie.“ Doch die Flamme des Anfangs ist nicht zu löschen. Madoka Ihikawa und Vivian Wang (bei der Premiere am 17.11. waren diese Parts besetzt mit Monica Barbotte und Yun Kyeong Lee, aber der Autor sah die Vorstellung am 1.12.23) tanzen zum Lang ein erstes einsames Duett. Sie tragen blaue kleidartige Kostüme (Kostüme: Verena Hemmerlein), verkörpern das Neue. Alles ist ein wenig sperrig, muss noch zu sich finden, aber das ist kein tänzerisches Manko, sondern das Bild, wie der Verlauf des Abends zeigt. Dieser Strang gehört musikalisch ganz zu Lang.

Im Laufe des 80minütigen Stücks wechseln nun immer mehr der Tanzenden von schwarz zu blau, wobei die neuen Kostüme nicht wirklich das reine Blau der Visionärin tragen, sondern vielmehr schwarz und blau in einer Art Batikstil vereinen. Kommt es anfangs noch zu gewaltätig wirkenden Szenen, wenn etwa Ishikawa von drei Männern in schwarz geradezu atemlos herumgewirbelt wird, liegen ihr die Schwarzen bald eher zu Füßen und zelebrieren ein schon unheimliche Verehrung. Gleichzeitig bekommt die schwarze Perfektion Risse. Tänzer*innen bleiben in den Massenchoreografien liegen, was der Rest ignoriert, und die Bewegungssprache wird weniger ausladend. Eine hegemonielle Haltung wird durch eine andere abgelöst. Immer wieder wird dazu auch der Pflanzenwagen als Sinnbild für das Neue und Frische durch die Gegend gefahren und wie ein Schrein behandelt.

Mit dem Miltonschen Ausgangspoem „Paradise Lost“ von 1667, das den Höllenfall des Teufels und den Südenfall im Paradies beschreibt, hat das Ganze nur wenig zu tun, außer der Frage der neuen Idee in der Welt. Schröder, der zum Ende der Spielzeit seinen Posten als Ballettdirektor zu Gunsten seines künstlerischer Produktionsleiters Rémy Fichet räumen muss, liefert hier seine Qualitäten noch einmal auf den glänzenden Opernboden. Viel Neues ist allerdings nicht dabei und es fehlen auch die eindrücklichen Bilder wie er sie etwa in „Rituale“ oder „Fusion“ geschaffen hat. Statt dessen liefert er sein Ballett der Führung der Musik aus, wenn er mitunter zu den Solostimmen aus dem Graben, eigene Soloparts kreiert. Schröders choreografischen Ideen reichen schlicht nicht aus, um gegen das musikalische Doppelspiel, das hervorragend funktioniert, etwas Eigenständiges zu etablieren und dem Soundbett eigene tänzerische Momente abzutrotzen. Den tänzerischen Ideen fehlt hier der Biss, der ganz große Moment und das Singuläre, das eben die großen Abende auszeichnet, auch wenn die Tänzer*innen wie immer in Leipzig hervorragend abliefern.

Das Ergebnis ist ein stimmiges Konzert mit dem Leipziger Ballett. Kein Reinfall, aber auch kein Feuerwerk. Und wenn am Ende wieder eine Person anfängt, eine kleine Flamme zu entzünden, und Langs Musik vom Anfang erneut erklingt, wünscht man sich doch ein etwas mehr Funkenstieben bei der nächsten Runde.

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