„Mentiras Aplaudidas“ von Panaibra Gabriel Canda

„Mentiras Aplaudidas“ von Panaibra Gabriel Canda

Großes Ballett, kleines Solo und eine Ubuntu-Feier

Zum Abschluss der 32. euro-scene in Leipzig

Die euro-scene ging mit Maguy Marin und Mario Schröder zu Ende. Zuvor zeigte Sourour Darabi, was man mit wenig leisten kann und auch die Ukraine bekam ihren Bühnenplatz. Die wichtigste Neuerung: „Ubuntu Connection“.

Leipzig, 15/11/2022

Mit großem Ballett ging die 32. euro-scene am Sonntagabend zu Ende. Erstmalig war das Festival im großen Opernhaus im Augustusplatz zu Gast. Dort zeigte Maguy Marin mit „Duo d’Eden“ und „Große Fuge“ zwei ältere Arbeiten, die mit dem Leipziger Ballett neu einstudiert wurden und Gastgeber Mario Schröder schloss mit seiner Uraufführung von „Pantha Rhei“ in einem surrealistischen Bilderbogen, der auch deutlich Motive von Marin aufnahm, das Festival ab.

„Duo d’Eden“ von 1986 ist ein Pad-De-Deus mit Masken und Kostümen, die an die Nacktheit im Paradies erinnern. Zu Naturgeräuschen mit Regen und Donnern tanzen Itziar Ducajú und Marcelino Libao alleine über die große Bühne. Sie wirft sich auf ihn, hängt an ihm, ist gleichermaßen Schlange und Eva. Die Körper ist immer wieder gefangen in einem verwinkelten Verschränken, im Versuch des eins Werden, und so ist diese Reminiszenz ans Paradies im Grunde allegorischer getanzter Sex. Eine Étude, kurz und knackig, aber eigentlich zu klein für die große Bühne, die alle Intimität nimmt. „Große Fuge“ von 2001 hingegen ist einfach gut vertanzte Musik. Natasa Dudar, Madoka Ishikawa, Diana Sndu und Vivian Wang tanzen in roten Kleidern raumgreifend zu Beethoven (Op. 133 B-Dur), gespielt vom Gewandhausorchester unter der musikalischen Leitung von Matthias Foremny. Der Tanz ist illustrativ, musikalische Strukturen, Echos und Motive werden direkt in Sprünge, Armbewegungen oder Kreiseln auf dem Boden übersetzt. Dabei wechseln die Bewegungsmuster durch, selten nur sind alle am gleichen Thema zu Gange, was eine rhythmische Vielfalt und Spannung erschafft, ohne aber mehr zu wollen, als der Musik dienlich zu sein.

Beide Stückchen bringen zusammen nur 45 Minuten auf die Uhr und sind so kaum mehr als die Vorspeise zum Hauptgang von Mario Schröders „Pantha Rhei“, der nach der Pause zur Uraufführung mit 22 Mitgliedern des Corps des Balletts kommt. Bühnenbildner Paul Zoller hat sich dazu ganz in die Bilderwelt des Surrealismus begeben. Getreu dem Titel des Stückes ist alles in Bewegung, vor der Bühne fährt ein zerfließender Klecks hin und her, ein Halbmond wandert über den Bühnenhintergrund, vorne dreht sich eine Pflanze und ein riesiges Kristallgitter fährt beständig auf und ab. Die Kostümbildnerin Montserrat Casanova wiederum hat sich vor allem an den Kostümen von Marins „Fuge“ orientiert, mit einigen Ausnahmen angenehm schlicht in weiß und rot. Denn Mario Schröder konzipiert seinen großen Abend als Hommage an die Choreografin Marin. Er nimmt ihre Bildersprache auf, aber geht von hier in verschiedene Richtungen weiter. Mal setzt er ganz auf den Effekt, wenn er eine Tänzerin auf einen liegenden Tänzer stellt, so dass sie auf ihm surfen kann, während eine ganze Reihe weiterer Tänzer diese Maschine antreibt. Oder er lädt zur großen ausladenden Massenchoreografie in weiß und rot. Schröder setzt auf den tänzerischen Effekt und weiß, wie er sein Ensemble zum Strahlen bringt. Mit der treibenden Musik von Pascal Dusapin (und in einer Ruhepause mit Bach) setzt er ganz auf die Energie und weniger auf das Schwelgen. Ein energetischer Abend, der das Leipziger Ballett von seiner aktiv-kreativen Seite zeigt.

Eine ganz andere Energie hatte das Solo „Savušun“ von Sourour Darabi. Es ist ein dunkler, düsterer Abend, mehr Schweben als Tanz mit inhaltlich düster raunenden Geschichten. Im schwarzen Umhang steigt Darabi, geboren im Iran und mittlerweile in Paris lebend und arbeitend, über die Treppe im LOFFT hinab und erzählt auf Persisch eine Geschichte. Alles wirkt sanft und fröhlich, bis auf der Bühne der Umhang davonfliegt und unter der haarigen weiblichen Brust ein Gürtel mit Kerzen zum Vorschein kommt, der sicher nicht von ungefähr an einen islamistischen Sprengstoffgürtel erinnert. Es folgt ein düsteres Todesgedenkritual, bei dem die brennenden Kerzen in den Mund gesteckt werden, um dann in einer Geschichte zu gipfeln von der erotischen Anziehung des Vaters und Soldaten auf das Kind. Aus den Boxen fragt Lana del Rey, ob man sie noch lieben würde, wenn sie nicht mehr jung und schön ist. Angesichts der non-binären Biografie von Sourour Darabi, der fragwürdigen sexuellen Anziehung zum Vater und des religiösen Überschwangs der Bilder explodieren die Ebenen hier in absoluter Stille. Intensive Eindrücke mit minimalen Mitteln, das gelingt Darabi äußerst überzeugend.

Intensiv kommt auch „My Land“ daher, ein Stück des Neuen Zirkus mit sechs ukrainischen Artisten und einer Artistin, das von Bence Vági und Recirquel produziert wurde. Auf einer dunklen Bühne mit viel Sand, mit Heimaterde, bauen die sieben verschiedene konfliktreiche Szenen, ohne aber ihre Jonglage-Nummern, ihre Leiter-Nummer und verschiedene Spielarten der Körperartistik zu vergessen. So entsteht ein stimmungsvoller aber dramaturgisch nicht ganz klarer Abend, der derzeit die europäischen Festivals und dort ganze Familien beglückt. Wenn am Ende Yevheniia Obolonina mit ukrainischer Flagge erscheint, ist der Applaus groß.

„My Land“ ist dabei der einzige Beitrag aus Osteuropa, einstmals ein Schwerpunkt der euro-scene, der der seit zwei Jahren neu amtierende Festivalleiter Christian Watty aber nun mehr oder weniger stillschweigend entsorgt. Ein Alleinstellungsmerkmal hat das Festival damit aktuell nicht mehr, sondern reiht sich ein in den Reigen der zahlreichen europäischen Festivals, die sich schlussendlich alle aus demselben Pool bedienen, wobei die euro-scene immerhin mit drei Uraufführungen (darunter Schröder) und drei Deutschen Erstaufführungen aufwarten konnte. Das Niveau war durchgehend hoch und es gab nur wenige schwache Momente, dafür aber so manche Perle, wie etwa „Misericordia“ von Emma Dante (auch eine Deutschsprachige Erstaufführung).

Eine der Uraufführungen war „Mentiras Aplaudidas“ der Company „Panaibra Gabriel Canda“, die sich einmal mehr der postkolonialen Aufklärung verschrieben hat und am Ende so etwas wie eine afrikanische oder besser pan-afrikanische Utopie verkündet. Der Abend ist reichlich disparat und eher performativ denn wie angekündigt ein Tanzstück. Mithilfe von Handykameras und Videofiltern beginnen sie einen Streifzug durch afrikanische Kolonialgeschichte, aktuelle Probleme vor allem mit den eigenen Eliten und utopischen Ausblick. Doch so richtig springt der Funke nicht über, die Grenzen zwischen Parodie und Ernsthaftigkeit bleiben unklar und auch die Videofilter über Gesichtern der Live-Projektionen wirken mehr als Gimmick, denn als eigentliche künstlerische Gestaltungskraft und auch ein irres Bananeschmeißen kann über den dünnen inhaltlichen Faden nicht hinwegtäuschen. Es wird zu schnell plakativ. Und wenn am Ende in einer fiktiven ewigen E-Mail eine afrikanische Konföderation in der Art eines realen Wakanda („Black Panther“) beschworen wird, dann warten alle nur sehnsüchtig auf das Ende.

Endlos weitergehen können hätte es dagegen bei „Ubuntu-Connection“, das Raphael Moussa-Hillebrand und Jasmin Blümel-Hillebrand als eine Art Wettbewerbsformat für die euro-scene entwickelt haben. Zwei Abende hatten 16 Künstler*innen aus allen Tanzformen sowie dem Neuen Zirkus die Chance, sich dem Publikum zu präsentieren. Der erste Abend war eine Vorstellung mit kleinen Soli, das richtige Battle startete am zweiten Abend. Wobei Battle zwar das aus dem Urban Dance entlehnte Grundmuster war, aber doch dem Ubuntu-Motto „Ich durch dich“ nicht gerecht wird. Das Berliner Somɔgɔ Kollektiv lieferte improvisierte Live-Musik und die Akteur*innen, per Los in Zweier-Teams zusammengebracht, traten nun gegeneinander an, während eine vierköpfige Jury die einen oder anderen in die nächste Runde schickten, wobei die „Gewinner*innen“ sich einen der „Verlierer*innen“ mitnehmen durften. Das Ergebnis war schlicht und ergreifend eine große Party in der Schaubühne Lindenfels mit tollen Eindrücken, wenn Rollschuhe auf Diabolo, Urban Dance oder Roboter-Moves treffen. Konsequenterweise wurde denn auch das Preisgeld zwischen allen geteilt. Alle für alle.

Insgesamt 5.800 Besucher (plus 850 in der Oper zum Abschluss) bei 18 ausverkauften Veranstaltungen meldet das Festival. Von Publikumsschwund und Theatermüdigkeit also keine Spur in Leipzig und auch die durchgehend hohe Qualität lässt aufs nächste Jahr hoffen. Die euro-scene ist unter Christian Watty als Größe in der Stadt wieder zurück. Inwieweit es aber ein nicht wirklich groß finanziertes Festival braucht, um dem großen Dampfer auf die Sprünge zu helfen, bleibt fragwürdig. Vielleicht ist alles nur ein Marketinggag, aber große Ballettinszenierungen sollten auch ohne Unterstützung der Freien Szene möglich sein.
 

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