„A-Life“ von Douglas Lee

„A-Life“ von Douglas Lee

Schärfentiefen

Premiere beim Ballett Zürich mit Douglas Lees „A-Life“, „Wings Of Wax“ von Jirí Kylián und Martin Schläpfers „Forellenquintett“

„Quecksilber“ ist der erste Gedanke beim Betrachten von Douglas Lees neuer, atemberaubender Tanzkomposition „A-Life“ am Opernhaus Zürich.

Zürich, 10/02/2014

„Quecksilber“ ist der erste Gedanke beim Betrachten von Douglas Lees neuer, atemberaubender Tanzkomposition „A-Life“ am Opernhaus Zürich. Ausgeschüttet nimmt es unerwartete Formen an, bis es in Linsenform erstarrt. Douglas Lees Bewegungskreationen wirken wie flüssiges Schwermetall. Doch es bleibt nicht bei diesem einen Bild. Der weiße Bühnenkasten mit den schrägen Wänden gleicht einem menschenleeren Laboratorium. Roboter bewegen sich im Gleichschritt auf das Publikum zu. Tänzer scheren aus, verwinkeln und verschrauben sich zu prätentiösen Formen – im positiven Sinne: Lee hat, und man kann ihn hier als interessante Position neben seinen englischen Kollegen Wayne McGregor stellen, nach rund fünfzehn Choreografien zu einem physisch klar definierten Körperverständnis gefunden, das er unablässig nach dessen Möglichkeiten befragt. Dessen wichtigstes Merkmal: die oft vom Kopf und in Abweichung von der Mittelachse ausgehende Tauchbewegung, die von allen möglichen Gelenken ausgehenden, mechanischen Bewegungsaktionen folgt oder ihnen voranschreitet. Geschenkt werden dadurch vor allem „Pas de deux“-Momente, die atemlos machen. Das klassische Ideal der Schwerelosigkeit erfährt hier eine aktuelle Neuformulierung.

Neben der außergewöhnlichen Virtuosität auf der Bewegungsebene genießt man an dieser Uraufführung auch die permanente Veränderung des eigenen Blickwinkels. Lee ist es gelungen, hierfür mit einem ausgeklügelten räumlich-dramaturgischen Denken die Wirkungsvoraussetzungen zu schaffen. Neben all den Themen, die man in „A-Life“ hineintragen kann – Stichwort: „Künstliche Intelligenz“, „Künstliche Lebenssysteme“ oder „Der entfremdete Mensch“ - ist das eine seiner wichtigsten künstlerischen Leistungen an diesem Abend. Der Kniff hierfür liegt in der Öffnung des Raumes um einen großen Spalt breit in der Mitte des Stückes. Als ob jemand die Schärfentiefe immer wieder verstellt, wähnt man sich so plötzlich durch ein Mikroskop schauend. Das kleinteilige, oft verschlungen wirkende, schwebende Tanzgeschehen gerinnt so zur Darstellung kleinster Organismen in einer gläsernen Box, die sich zu immer neuen Konstellationen zusammenfinden. Wenig später blickt man auf das selbe Geschehen wie auf eine mannigfach vergrößerte, kühl komponierte, raumgreifende Installation industrieller Produktion.

Energetisch fühlt sich das Werk an, als ob es permanent verschiedene Aggregatszustände durchläuft. Intime, emotionale Verdichtungen und Minibegegnungen entstehen vor allem in der Mitte des Werks. Der treibende, rhythmisch pulsierende Sound, der wie ein Flussbett wirkt, in dem sich der Bewegungsstrom hin und her wälzt, unterstützt die kontinuierliche Produktion sogenannter „Mental Maps“ im Bewusstsein des Betrachters.

Kongenial dazu, hier Gratulation an Christian Spuck, passte „Wings Of Wax“ von Jirí Kylián aus dem Jahr 1997. Eine Tänzer wie Zuschauer herausfordernde Ensemblearbeit, mit deren Tiefe es, um es nochmals zu sagen, Lee in seiner Weise aufgenommen hat. „Schmerz“ ist hier die erste Assoziation, über die man sich mit dem Werk, das ganz aus der Musik herausgearbeitet ist, verbindet; „Zeit“ ist eine Kategorie, über die sich sein Werk erschließen lässt. Den Wegweiser gibt das Bühnenbild. Ein großer Schweinwerfer kreist in unterschiedlichen Geschwindkeiten um einen kopfüber nach unten hängenden Baum. Leicht lesbar: Was wäre wenn die Sonne um die Erde kreist? Nimmt man diesen Gedanken auf und vergegenwärtigt sich das Schlussbild - ein Paar umarmt sich, küsst sich, löst sich, umarmt sich und immer so weiter – lässt sich „Wings of Wax“ als Rückwärtserzählung der Schöpfungsgeschichte und damit Aufhebung der Vorstellung von Zeit als fortschreitendem Kontinuum interpretieren – eine großartige Hommage an den Tanz als Kunst im Jetzt und Erlösungsmöglichkeit des Individuums.

Scheinbar federleicht und unbeschwert endete schließlich diese neue Premiere vom Ballett Zürich mit Martin Schläpfers „Forellenquintett“ aus dem Jahr 2010. Eine souveräne, wenn auch für diesen Abend leider problematische Einladung Spucks an den Kollegen, der seine Karriere in der Schweiz begann und auf diese Weise ein Heimspiel genießen durfte. Vor dem Hintergrund von Lees und Kyliáns Werk wirkte Schläpfers großformatige, lustig-ironische Inszenierung von Franz Schuberts Komposition von der Ausstattung her zu schrill, auf der Ebene der Bewegungsfindung zu eingängig, und in seinem Willen zur narrativen Episode fast kindisch. Aber vielleicht war man einfach nicht mehr in der Lage, sich nach berauschenden Ästhetiken in den ersten beiden Werken auf einen kühnen Wechsel einzulassen, der einem die Auseinandersetzung mit Gummistiefeln auf der Tanzbühne abverlangte.
 

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