„Wie eine Raubkatze“

Wien steht vor einer veritablen Rudolf-Nurejew-Renaissance: An der Staatsoper wird die legendäre „Don Quixote“-Inszenierung des vor knapp 20 Jahren verstorbenen Tänzers neu einstudiert

Wien, 22/02/2011

„Wenn er als Basil auf der Bühne im Halbrund lief, um seine Variation im dritten Akt von ,Don Quixote‘ anzustimmen, hat er mit den Zähnen gescharrt wie eine Raubkatze“, erinnert sich Susanne Kirnbauer, seinerzeit als eine der Freundinnen der Wirtstochter Kitri besetzt, an prickelnde Momente in Nähe des leidenschaftlichen Ballerinos. Die ehemalige Solistin und Ex- Volksopernballettchefin weiter: „Wir waren damals wie die Puppen. Atemtechnik und Interpretation mussten wir uns erst aneignen.“

Nurejews Charisma, bestätigt auch der ehemalige Solist und oftmalige Nurejew-Tanzpartner Michael Birkmeyer, der einst als Jungspund mit dem Tanzstar „Schwanensee“ einübte, sei enorm gewesen. In der 1869 in Moskau uraufgeführten Ballett-Komödie „Don Quixote“, die nach choreografischer Vorlage von Marius Petipa jenseits des Eisernen Vorhangs erstmals von Nurejew in Wien inszeniert wurde, sollte Birkmeyer, der zuletzt Intendant am Festspielhaus St. Pölten war, die pantomimische Rolle des Titelhelden übernehmen. Damals bekam er von Nurejew zu hören: „Du kannst zwar ganz gut tanzen, aber spielen kannst du nicht. Das wirst du jetzt lernen.“

Nurejews Wille zur Präzision war enorm, weiß auch Renate Loucky zu berichten, damals Corps-de-Ballet-Tänzerin: „Ich sah ihn ja auf der Bühne oft von hinten, und selbst wenn er schief in der Luft hing, landete er mit enormer Muskelarbeit haargenau in der richtigen Position. Er hat sich nichts geschenkt, im Gegenteil: Er hat seinen Körper vergewaltigt.“ Rudolf Nurejew (1938–1993) ist seit knapp zwei Jahrzehnten tot. In Wien ist Ballett ohne ihn nach wie vor undenkbar.

Die Donaumetropole hängt an ihren Stars gemeinhin weit über deren Ableben hinaus – Nurejew hält man seit seiner legendären „Schwanensee“-Inszenierung mit Margot Fonteyn die Treue: Jene 89 Vorhänge, die das Publikum 1964 erklatschte, gingen ins Buch der Rekorde ein, und als er zwei Jahrzehnte darauf sichtlich mit physischen Problemen auf der Bühne zu kämpfen hatte, blieb ihm seine Fangemeinde dennoch treu. Seit seiner spektakulären Lossagung vom sowjetischen Kirov-Ballett anlässlich eines Gastspiels in Frankreich am Flughafen Le Bourget 1961 war Nurejew staatenlos: Die österreichische Staatsbürgerschaft nahm er deshalb Jahre später gern an. Ballettdirektor wollte er in Wien nie werden, Paris erschien ihm stets als der spannendere Tanzort.

Dennoch schrieb er sich mit einigen seiner weltweit beauftragten Klassiker-Inszenierungen, die er stets auch als Vehikel für den Tänzer Nurejew sah, in die Wiener Ballettgeschichte ein – selbst eine letztlich erfolglose choreografische und musikalische Uraufführung wie Hans Werner Henzes „Tancredi“ anno 1966 mutete der damals 28-Jährige sich und Wien zu. Obwohl Nurejew künstlerisch viel von westlichen Tänzern und Choreografen profitierte, galt er stets als russischer Tänzer par excellence. Sein für damalige Verhältnisse erstaunliches tanztechnisches Können – in Verbindung mit einem keineswegs idealen Tanzkörper – garnierte er mit zündendem Schauspiel, das, je nach Abendverfassung, variantenreich zwischen Provokation und Erotik angelegt war und der jeweiligen Rolle so den speziellen Reiz verlieh. Mit Raffinesse wertete der bereits zu Lebzeiten als „Tanzgott“ apostrophierte Bewegungskünstler männliche Hauptpartien im klassischen Repertoire auf, nahm sinnvolle dramaturgische Eingriffe vor – und verwandelte bis dahin altmodisch wirkende Inszenierungen von Tschaikowsky- Balletten und anderen 19.-Jahrhundert-Juwelen in diskussionswürdige aktuelle Arbeiten.

Als sich Staatsoperndirektor Eberhard Waechter Anfang der neunziger Jahre auf die Suche nach einer neuen Ballettleitung machte, hielt man zuallererst im Umfeld großer sowjetischer Tänzer mit westlicher Prägung Ausschau. Natalia Makarova wurde aus den USA eingeflogen und übte heftig Kritik an den Wienern; ihre Assistentin Elena Tchernichova avancierte schließlich zur Ballettchefin, worauf sie Vladimir Malakhov verpflichtete, mittlerweile Intendant des Staatsballetts Berlin. Dieser wiederum wurde mit Nurejew verglichen, obwohl er mit dem Kollegen einzig den österreichischen Pass gemeinsam hatte. Malakhov wollte das Wiener Ballett jedenfalls nicht übernehmen. Vom Tanz à la russe blieb Wien für lange Zeit fasziniert. Den Künstlern aus dem Osten gestand man die richtige Schulung zu – und den notwendigen Feuereifer.

Nurejews Unzufriedenheit mit den Wiener Tänzern („You are never together!“), seine strengen Korrekturen und die Versuche, die Bühnenkünstler für bessere Arbeitsbedingungen eintreten zu lassen („Make a revolution!“), hatten zwar keine wesentlichen künstlerischen Veränderungen zur Folge, aber heftige öffentliche Leidenschaft für den bisweilen vulkanisch agierenden Cheftänzer. Nurejews maliziöses Lächeln faszinierte auch Menschen, die mit Ballett nichts zu tun hatten. Er füllte das Haus und machte den klassischen Tanz, auch in Wien, zu einer elektrisierenden Angelegenheit.

Dass der amtierende Staatsoperndirektor Dominique Meyer den noblen Tänzer Manuel Legris als neuen Ballettleiter nach Wien brachte, hat nicht zuletzt mit Nurejews erfolgreichem Wirken an der Pariser Oper zu tun. Meyer, der kurze Zeit mit Nurejew in Paris arbeitete, dazu: „Es war klar, dass er neben sich keinen Chef duldete, dennoch hat er das Ensemble hervorragend gecoacht, junge Talente gefördert – wozu auch Legris zählte.“ Nurejew beförderte den jungen Tänzer nach einer Vorstellung seiner „Raymonda“-Inszenierung auf der Bühne der New Yorker Met zum „danseur étoile“, dem höchsten Rang, den ein Tänzer an der Pariser Oper erreichen kann.

Legris: „Rudolf war natürlich ein Superstar, als er in Paris Direktor wurde, wir haben enorm viel von ihm gelernt. Seine hilfreichen Äußerungen sind mir deshalb im Gedächtnis geblieben, weil sie stets stimmten. Vom Publikum wurde er dennoch bisweilen ausgebuht.“ Mit der Einstudierung des „Don Quixote“-Balletts nach Miguel de Cervantes setzt Legris, der selbst minutiös die Proben leitet, in Wien nun einen Nurejew-Neubeginn. „Wahrscheinlich weil es die erste Inszenierung Rudolfs in Paris war“, begründet er die Stückwahl. „Zudem kenne ich die Produktion in- und auswendig, da ich eine Reihe von Rollen darin getanzt habe.“

Nurejew 2011, das bedeutet für eine junge Generation, die den Klassiker nicht mehr live sehen konnte, sorgfältigen Umgang mit legendärem Tanzmaterial. Maria Yakovleva, die im Wiener „Don Quixote“ als Kitri zu sehen sein wird, ausgebildet in der Schule des Kirov-Balletts in St. Petersburg und wie ihr Basil, Denys Cherevychko, für den Prix Benois de la Danse im Mai in Moskau nominiert: „Es ist eine große Ehre für mich, diese Fassung zu tanzen, die Schritte der Kitri sind unserer Fassung zu Hause sehr ähnlich, aber Basil hat wesentlich mehr Aufgaben.“

Persönlichkeit und Werk von Rudolf Nurejew will Legris auch in jeder seiner Spielzeiten mit einer Gala würdigen: „Diesen Juni steht seine Pariser Zeit im Zentrum. Wir werden aber nicht nur Nurejew-Choreografien zeigen, etwa einen Ausschnitt seines speziellen Pariser ,Schwanensees‘, sondern auch Beispiele von John Neumeier, Pierre Lacotte und anderen.“ Ein Gerücht ist zwischenzeitlich indes wie ein Kartenhaus in sich zusammengestürzt: Legris wird wohl nicht so rasch als Ballettchef nach Paris zurückkehren, wie mancher Insider mutmaßte. Hat doch die Pariser Ballettchefin Brigitte Lefèvre kürzlich Legris’ auch in Wien bekannten Kollegen, Laurent Hilaire, zu ihrem Co-Direktor – und damit wohl auch zu ihrem Nachfolger – bestellt.

Dominique Meyer lächelt wissend: „Wir haben uns Nurejews Erben aufgeteilt.“ Wien steht offenbar eine Nurejew-Renaissance bevor, zumal Meyer an eine weitere Programmschiene denkt. „Unsere Tänzer sollten auch Werke von Sasha Waltz, von Angelin Preljocaj und anderen Zeitgenossen tanzen, zu reduzierten Kartenpreisen für ein jüngeres Publikum. Das fehlt noch.“ Also ganz im Sinne Nurejews, der sich der Moderne nie verschloss.
Mit herzlichem Dank an das Magazin Profil

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