Selbstbewusstsein ertanzt

„Kontakthof“ von Pina Bausch getanzt von Damen und Herren ab 65 auf DVD

Lüneburg, 07/11/2011

/img/redaktion/kontakhof65.jpg Auf die Eingabe „Pina Bausch“ registriert Google 2,58 Millionen Einträge nach 0,10 Sek. Ein Zeichen für das ungebrochene Interesse an der Wuppertaler Ikone des Tanztheaters, gestorben 2009. Sie hatte über die Jahrzehnte in Wuppertal Stücke von ihr in wechselnder, professioneller Besetzung herausgebracht. Beim „Kontakthof“ (Urfassung 1978) ging sie noch einen Schritt weiter: Sie holte sich Menschen über 65 (2000) und Jugendliche (2007/8). Offenbar habe sie mehr nach den Typen als nach der tänzerischen Qualität ausgesucht, wie einer von der Altengruppe meinte, denn einige der Mitbewerber seien besser als er gewesen. Die Schrittfolgen, Posen, Gesten, und - viel wesentlicher - das Miteinander auf der Bühne studierten ihre langjährigen Mitarbeiter Jo Ann Endicott, Beatrice Libonati und Hans Pop ein.

Jetzt ist eine DVD mit der Probenarbeit zu „Kontakthof" von Pina Bausch getanzt von Damen und Herren ab 65 veröffentlicht worden. Sie schildert die Entwicklung einiger Abschnitte vom vorsichtigen Anfang bis zum überzeugenden Endergebnis. Freundlich, aber unerbittlich Präzision verlangend, führen die Tänzer, allen voran Endicott, die Amateure in harter Arbeit zur Bühnenreife. Das imponierende Endergebnis ist zu sehen in einigen Aufführungsausschnitten. Es ist keine simpel abfotografierte Einstudierung einer besonderen Choreografie, vielmehr eine Entwicklungsgeschichte in einer heterogenen Gruppe. Angestoßen durch die Herausforderung gewinnen die Senioren trotz mancher Rückschläge mehr und mehr den Mut, sich frei zu tanzen und zu spielen, Selbstbewusstsein zu erfahren. „Ich habe mich verändert“, verkündet eine Frau. Nicht nur die Körper mussten sich an die Anstrengung mehrstündiger Proben gewöhnen, auch der Kopf wird gefordert. „Man wird geistig viel beweglicher“, konstatiert eine andere Frau. Dem Problem, Kritik anzunehmen, schließlich hat man sein Berufsleben hinter sich, stellt sich die Gruppe im Ruhestand tapfer. Ihre Darstellung habe gegenüber der Profiversion einen eigenen Wert, betont ein Teilnehmer. Die kurzen Statements, Äußerungen werden zwischen die Probenszenen geschoben. Die Gesichter erscheinen konzentriert in Großaufnahme, so dass jede Regung und jede Falte zu sehen sind.

Quasi enthemmt auf der Bühne werden auch „heikle“ Momente möglich: Eine Frau wird von einer Gruppe Männer „abgegriffen“, von Kopf bis Fuß „Das ist meine Lieblingsszene“; gibt die Darstellerin an, nach dem langen Miteinander bei den Proben kennt man sich. „Wir sind uns über die Jahre sehr nahe gekommen“ resümiert eine Frau. Ohne Hemmung werden Kneifen, Beißen, Schlagen, Schieben, auch Kämpfe mit vollem Einsatz ausgetragen, kleiner Sadismus mit Biss in die Brust, Kneifen in den Oberschenkel. Paare räubern mit fast wildem Elan über die Bühne, erst ungenau, dann genau nach Korrektur von Hans Pop, der mühelos demonstriert, wie der Mann die Frau von hinten zu heben hat – und wie sich die Frau dabei verhalten muss. Beim knalligen Hüfttanz macht’s überraschend der scheinbar Unbedarfteste am schärfsten. Sehr präzise gefilmt und durch geschickte Schnitte erfasst das Auge die wichtigen Punkte einer Bewegungskurve.

Regisseurin Lilo Mangelsdorff hat ein feines Händchen, den Zuschauer bei der Stange zu halten, die Veränderungen der Akteure aufzuzeichnen und dramaturgisch nicht in der Spannung nachzulassen. Ein alter Herr, körperlich wohlerhalten, zieht sich aus bis auf die Unterhose. Ein anderer rennt von einer Frau zur anderen, wird von jeder beim Versuch, sie zu umarmen, zurückgestoßen, gibt atemlos auf und singt, nach Luft ringend, ein Lied. Teils wirken Gesten, Schritte, Mimik wie Alltagsbewegungen, deren Substanz bühnenwirksam weiterentwickelt wurde wie im „Schlabberschritt“ über die Fläche. Bewusste Lockerheit in den Unterschenkeln fällt den Senioren nicht leicht wie überhaupt die Koordination aller Körperteile im Gehen, Laufen. Schließlich die Verwandlung durch Kostüm, in der Maske Makeup für den Auftritt, die schnellen Umzüge hinter der Bühne, Laufen hinter der Bühne, um die Seite zu wechseln. Die Senioren verleihen ihren Rollen einen besonderen Reiz von emotional bis fast unerträglich intensiv, von zurückhaltend bis hemmungslos hingegeben, wie junge Leute es so nicht hervorbringen (können).

Der Film „Kontakthof“ schält bisher im normalen Leben nicht entdeckte Eigenschaften der Individuen heraus. Am Ende bleibt die Freude über das Geleistete – und viel Beifall. Und die begründete Hoffnung auf weitere Vorstellungen.
Irreführend ist die Oberzeile auf dem Cover, der Kontakthof werde von der Seniorgruppe getanzt. Davon kann nicht die Rede sein, denn die Damen und Herren tanzen nur kurze Abschnitte daraus. Was also die Arbeit der Bausch betrifft, muss sich der Betrachter mit Bröckchen begnügen. Den Reiz vermindert das nicht.

Zum Vergleich lässt sich die DVD „Tanzträume - Jugendliche tanzen KONTAKTHOF von Pina Bausch“ heranziehen. „Kontakthof“ mit Damen und Herren ab 65 Jahren von Pina Bausch. DVD 67 Minuten, 2002. Arte EDITION „Kontakthof“-DVDbei Amazon bestellen! „Tanzträume“-DVD bei Amazon bestellen!

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