koeglernews 17

Eine McGregor-Fernsehproduktion und eine „Giselle“ vom Flohmarkt zum Pacific Northwest Ballet in Seattle

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Stuttgart, 24/07/2011

Ein wichtiger Hinweis: wer immer die fabelhafte TV-Produktion „Wayne McGregor – Getanzte Gedanken“ bei arte versäumt hat, kann sie jetzt nachholen – bei der Wiederholung am 26. Juli, zwar um 5 Uhr morgens, aber man kann ja sein Aufnahmegerät entsprechend einstellen. Zweifellos ist McGregor, Jahrgang 1970, einer der weltweit wichtigsten Choreografen und inzwischen einer der beiden residenten Choreografen des Londoner Royal Ballet (zusammen mit Christopher Wheeldon – eine Doppelspitze nach dem Stuttgarter Vorbild von Christian Spuck und Marco Goecke?). Aber dann hatte Reid Anderson McGregor schon vor seinem Londoner Durchbruch entdeckt und 2003 mit „Nautilus“, gefolgt von „Eden“ 2005 und „Yantra“ 2010, nach Stuttgart geholt.

McGregor nennt sein höchst individuelles Bewegungssystem ‚disfunctional physicality‘, und wenn man von seinen rasanten Kommentaren auch kaum die Hälfte bei der ersten Begegnung versteht, so wird doch klar, dass er auf zwei Ebenen arbeitet: der mentalen und der physischen, wobei der Verstand mindestens eine ebenso wichtige Rolle spielt wie die technische Leistung. Ganz schön anspruchsvoll, da es vom Tänzer verlangt, dass er sich gründlich Gedanken macht über den Zusammenhang von Denken und Bewegung. Dass also das Gehirn ständig beteiligt ist an der Produktion der Motion. Die an dem Film beteiligten Tänzer scheinen das rascher zu kapieren als der Zuschauer – gleich, ob es sich um Amateure oder Profis handelt. Und das Ergebnis ist faszinierend anzusehen und stellt eine ungeheure Bereicherung der Choreografie dar.

Und etwas ganz anderes: am 21.10.2008 wies ich im koeglerjournal unter dem Titel „Das Original des Originals?“ auf die Veröffentlichung einer Pariser „Giselle“-Notation aus den 1860er-Jahren hin, erschienen im Faksimile-Druck im Georg Olms Verlag 2008 in Hildesheim, herausgegeben und kommentiert von Frank Manuel Peter vom Deutschen Tanzarchiv in Köln. Dort ist beschrieben, um was es sich handelt: um Aufzeichnungen der „Giselle“-Version aus dem Jahr 1868, wie sie damals in der Pariser Opéra getanzt wurde, und wie sie von Henri Justament, Chefchoreograf des Hauses, notiert worden war – mit Distribution der Tänzer auf der Bühne, Beschreibung ihrer Choreografie und pantomimischen Aktionen, dazu Zeichnungen und Wegskizzen. Das war also vor drei Jahren, und damals träumten Peter (und ich) von einem eventuellen „Giselle“-Symposion in Köln, „mit einer Einstudierung auf Grund der Justamentschen Notation im Vergleich zu der heute allgemein praktizierten Version à la St. Petersburg (und als Kontrast dazu Mats Eks eigenwillige Stockholmer Interpretation von 1982“, demnächst wieder beim Bayerischen Staatsballett in München.

Ja, da hatten wir wieder einmal schön geträumt, denn die Veröffentlichung wurde bei uns kaum kommentiert, geschweige denn in die Praxis umgesetzt – stattdessen herrschte Funkstille (und das trotz des Vorhandenseins inzwischen von allen möglichen tanzwissenschaftlichen akademischen Institutionen). Bis zu diesem Sommer. Die Initiative dazu ging von der Konferenz der amerikanischen Dance Critics Association aus, die im Juni im Phelps Center des Pacific Northwest Ballet in Seattle tagte und bei der Gelegenheit eine „Giselle“-Produktion nach den Justamentschen Aufzeichnungen präsentierte, einstudiert von Peter Boal, mit der Unterstützung der Tanzhistoriker Doug Fullington und Marian Smith (Fullington war bekanntlich auch an der Münchner Einstudierung von „Le Corsaire“ beteiligt. Von dieser Einstudierung liegen mir zwei ausführliche Kritiken vor: von Alastair Macaulay, offenbar bereits von der Premiere in Seattle, in der New York Times vom 6. Januar 2011 und von Jack Anderson vom 25. Juni 2011.

Beide offerieren eine Menge Details, besonders über die pantomimischen Szenen, aber auch über die Tempi und die Charakterisierung der einzelnen Rollen, die zum Teil erheblich abweichen von den heute bei uns praktizierten Versionen. Beide Autoren sind vorsichtig in der Zuschreibung, dass es sich hier nun um die Uraufführungsversion von 1841 handelt (davon kann nicht die Rede sein). Manche Details erscheinen als Verbesserungen gegenüber den bei uns bekannten Versionen, aber nicht alle können als Gewinn an praktischer Bühnentauglichkeit verbucht werden. Auf jeden Fall sollten sie bei künftigen Einstudierungen sehr sorgsam zur Kenntnis genommen und getestet werden. Es scheint mir bezeichnend, dass ihre Entdeckung und Veröffentlichung auf deutsche Initiative zurückgeht, dass sie bei uns jedoch – und unseren zahllosen „Giselle“-Produktionen zwischen Flensburg und Passau – auf keinerlei nachhaltiges Echo gestoßen ist.

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