Cranko lebt … und John Neumeier heißt sein Verweser

Hamburg gastiert mit „Nijinsky“ bei den Festwochen 50 Jahre Stuttgarter Ballett

oe
Stuttgart, 15/02/2011

Welch ein Theaterabend! Welch eine überströmende Bildfantasie! Welch eine Kraft, diese Bilder in tänzerische Aktion umzusetzen! Welch eine Kompanie, dieser imaginierten Fantasie szenisches Leben einzuhauchen! So geschehen beim Gastspiel des Hamburg Balletts mit John Neumeiers „Nijinsky“ bei den Festwochen 50 Jahre Stuttgarter Ballett im Opernhaus der Württembergischen Staatstheater – elf Jahre nach der Uraufführung. Entstanden als ein ‚Work in Progress‘, beginnend 1987 mit dem Solo „Vaslaw“ dem Miniporträt des charismatischsten Tänzers des Weltballetts als „Beziehung zwischen der Figur Vaslaws selbst und den nie realisierten Figuren seiner choreografischen Fantasie“. Fortgesetzt als ausladender Ballett-Zweiakter innerhalb eines höchst komplexen biografischen dramaturgischen Netzwerks in eben jenem „Nijinsky“ der Jahrtausendwende. Abermals in Angriff genommen in der dann 2009 in der Hamburger Kunsthalle gezeigten Ausstellung „Tanz der Farben – Nijinskys Auge und die Abstraktion“.

Und nochmals tänzerisch weiterverfolgt in dem im gleichen Jahr uraufgeführten Ballett „Le Pavillon d'Armide“, das Nijinsky in die Nacht seines Lebens begleitet. Fehlt nur noch die Apotheose als Ballett über die in der Ausstellung gezeigten abstrakten geometrischen Farbzeichnungen und Bildschöpfungen Nijinskys als Vollendung der Neumeierschen Tetralogie (eine Art tänzerischer Gegenentwurf zur musiktheatralischen Tetralogie des „Ring des Nibelungen“?).

Es ist die Erfüllung des Traums vom fliegenden Menschen, wie ihn Leonardo da Vinci geträumt hat. Der Menschheitstraum von Ikarus – aber einem Ikarus, der nicht ein Opfer seiner geschmolzenen Flügel wird, sondern sich aufschwingt kraft seiner psychisch-physischen Kondition in den Kosmos, zu seiner „Hochzeit mit Gott“.

Den haben wir erlebt am Dienstag in der Gestalt des Tänzers Alexandre Riabko – inmitten all der Gestalten, die sein Leben begleitet haben, sein Leben in der Realität (seine Frau Romola, seine Schwester Bronislava, sein Bruder Stanislaw – ein glänzendes Debüt des noch ganz jungen Konstantin Tselikov –; Serge Diaghilew, seine Mutter, sein Vater, seine bevorzugte Ballerina, sein Nachfolger Massine) und seiner Bühnengestalten (der Harlekin, der Geist der Rose, der Goldene Sklave, sein Partner in „Jeux“, der Faun, Petruschka) und der Gesellschaft seines letzten Auftritts. Riabko flog durch diese Szenen und Aktionen – eine ideale Jünglingsgestalt in immerwährender Verwandlung, verführerisch, geradezu magisch, dann zunehmend leidend, zuletzt ein Häuflein Elend, gezogen von seiner Frau auf einem Schlitten durch eine Welt, die aus den Fugen geraten ist.

Welch ein Personenaufgebot der Hamburger Kompanie! Welch ein Klangkosmos, der da heraufbeschworen wurde von den Solomusikern und den Stuttgarter Staatsorchestralen unter der Leitung von Simon Hewett. Und das alles als Gestalt gewordene Vision eines Mannes, der seine künstlerische Karriere beim Stuttgarter Ballett begonnen hat, inspiriert von einer der kreativsten Theaterpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts!

 

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern