Chopin, unser Zeitgenosse

Hamburg reklamiert Robbins’ „Dances at a Gathering“ als Teil des Weltkulturerbes

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Hamburg, 12/01/2011

Freilich nicht zu Chopins Lebzeiten, sondern 120 Jahre nach seinem Tod. Genau: im Jahr 1969. Das heißt: im Jahr der Uraufführung von Jerome Robbins’ „Dances at a Gathering“ beim New York City Ballet. Die bekamen wir erstmals beim Gastspiel der Balanchine-Kompanie im Sommer 1969 in Monte-Carlo zu sehen. Und ahnten bereits damals, es mit einem der Gipfelwerke des Balletts zu tun zu haben.

Seither ist ein halbes Jahrhundert vergangen – haben wir „Dances at a Gathering“ von den verschiedensten Kompanien getanzt erlebt. Zuletzt 2002 vom Stuttgarter Ballett – übrigens das einzige Land außerhalb der USA, das sich nunmehr zusammen mit Hamburg zweier Produktionen dieses Balletts rühmen kann. Wie sonst nur noch Amerika mit New York City Ballet und San Francisco – nicht England, nicht Frankreich und auch nicht Dänemark. Zweimal „Dances at a Gathering“ in Deutschland – beide mit der Approbation des Robbins Rights Trust – wenn das kein Reifezeugnis für das Ballett in Deutschland ist! Und nun also Hamburg, in einem Programms mit Robbins’ „The Concert“ vom Jahrgang 1956, zwölf Jahre vor den „Dances at a Gathering“. Damals noch eine Parodie auf die Unarten des sogenannten klassischen, beziehungsweise romantischen Balletts – ganz aus dem Geiste des amerikanischen Ballett-Karikaturisten Edward Gorey und seines Inbegriffs der Fokineschen „Les Sylphides“ alias „Chopiniana“ von 1907. Und seither fortzeugend als Klassiker des modernen konzertanten Balletts in der Fassung von 1909 bei Diaghilew als ein Nostalgiker des „Les Sylphides“-Mythos. Und ein fortbestehender Gräuel für jeden modernen Chopin-Liebhaber, seiner unsäglichen orchestralen Aufblähungen und seiner Verzerrung der Tempi wegen.

Die hat dann Robbins dreizehn Jahre später, nach seiner Rückkehr vom Broadway zum Ballet pur, getilgt und als eine Suite von Tänzen für fünf Paare zur reinen Klaviermusik von Chopin neu choreografiert. Quasi als einen Akt der Emanzipation von all dem Schwulst des romantischen Balletts, als eine Besinnung auf sich selbst, zum klassischen Ballett, inklusive dessen liebevoller Reminiszenzen an die Folklore, halb spielerisch, ein bisschen ironisch auch, aber immer liebevoll und sehr, sehr human – ein Gruß an das alte Europa, das den klassischen Tanz hervorgebracht hat, aber aus dem Geiste der Freiheit, die ihm seine Übersiedelung nach Amerika beschert hat. Es ist die Wiedergeburt Chopins auf dem Weg von Warschau via Paris und Mallorca in die Neue Welt, wo ihn die „Luft vom neuen Planeten“ umgibt und ihrer Hauptstadt Manhattan.

Heute wird uns bewusst, wie sehr der Weg Chopins über St. Petersburg und Paris à la „Chopiniana“ und „Les Sylphides“ ein Umweg war, ein Rückschritt in die Welt der Romantik mit ihren Luftgeistern und anderen außerirdischen Geschöpfen. Und wie wunderbar es Robbins gelungen ist, Chopin zu unserem Zeitgenossen des 20. Jahrhunderts zu machen. Denn dies sind die zweimal fünf Tänzerinnen und Tänzer mit ihrem Pianisten - Michal Bialk, einem Magier der Tasten. Und auf einmal gewinnt dieses Ballett ohne Handlung, diese lose Folge von Chopin'schen Klavierpieçen eine implizite Aktion – ein Treffen von Freunden, die zusammen aufgewachsen sind, als Tänzer, und die sich dann aus den Augen verloren hatten, und die hier nun, nach langer, langer Zeit einander wiederbegegnen und sich erinnern, wie das damals war, als sie noch eine verschworene junge Gemeinschaft waren. Und die nun Abschied nehmen von ihrer Jugend, sich vergewissernd, wie es damals war, und doch ahnend, dass es nie wieder so sein wird; Erinnerungen, nostalgiegefirnisst. Und die ein wenig bang auf das blicken, was da auf sie zukommt. Die ehemalige Leichtigkeit, das Spielerische ist dahin, nicht einmal die Erde ist länger das, was sie einmal war: Tempi passati! Der Braunbehoste streicht noch einmal liebevoll-zärtlich mit der Hand darüber hin.

Die Hamburger nehmen’s leicht – leichter als wir, wie wir uns von der Erstbegegnung vor einem halben Jahrhundert erinnern, und wie sich uns Edward Villella, Patricia McBride und Violette Verdy unauslöschlich eingeprägt haben, und später auch Nurejew und Sibley beim Royal Ballet. In Hamburg entdeckten wir diese erinnerungsverklärte Schwerelosigkeit in den beiden Besetzungen dieser Abende noch am ehesten bei Alexandre Riabko (Mann in Braun) und bei Carsten Jung und Ivan Urban (Mann in Grün), bei Anna Polikarpova (Frau in Grün) und bei Hélène Bouchet und Silvia Azzoni (beide Frau in Pink) wieder – ihre Kolleginnen und Kollegen wirkten ihnen gegenüber wie Angehörige einer jüngeren Generation, technisch nicht weniger virtuos, aber irgendwie erfahrungsärmer, lebenserfahrungsärmer.

Eins aber bekräftigte die Hamburger Einstudierung, die eine so wundersame Bestätigung der Schönheit und Musikalität des klassischen Balletts ist. Wenn ein einziges Ballett den Anspruch erheben kann, zum Kanon des Weltkulturerbes gerechnet zu werden, so sind es die Robbins‘schen „Dances at a Gathering“. Ich würde sogar noch weitergehen und sagen, dass Robbins hier eine literarische Gattung kreiert hat, die es in der Literatur selbst noch gar nicht gibt. Die, um literarisch legitimiert zu werden, wohl einer wiedergeborenen Virginia Woolf bedürfte!

www.hamburgballett.de

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