Abstrakte Formspiele

Letzte Live-Begegnung mit der Merce Cunningham Dance Company aus New York

Berlin, 23/09/2011

Zwei Messen fanden an diesem Abend fast zeitgleich statt. Die eine hielt im Olympiastadion der Papst, die andere galt einem Tanzgenius des vergangenen Jahrhunderts. Kurz vor dem Tod 2009 verfügte Merce Cunningham die Auflösung seiner Company mit Ende 2011. Bis dahin darf sie auf einer zweijährigen Welttour seine Jünger und Fans Abschied nehmen lassen von einem beispielhaft kompromisslos neue Bewegungsmöglichkeiten erforschenden Œuvre. Knapp 120 Stücke umfasst es, von denen nun 18 auf Tournee sind, darunter sieben historische Arbeiten in Wiederaufnahme. Gut ein halbes Jahrhundert der elanvollen Recherche spiegeln sie, geben Auskunft über die Wurzeln und weisen nach, welche Wirkung die Ergebnisse auf Zeitgenossen und sicher auch Zukünftige haben. Dass das Auftaktgastspiel der Merce Cunningham Dance Company in der Volksbühne die letzte Kreation des Meisters offerierte, nur drei Monate vor seinem Tod uraufgeführt, erhob sie in den Rang einer Messe, eines Requiems. „Nearly 90“ spielt auf das Alter des Choreografen an, nimmt darauf indes keinen weiteren Bezug, sondern steht als eine Art Lebensbilanz. Alle Bausteine seines Vokabulars scheint er nochmals und auf typische Weise in einer Choreografie gebündelt zu haben.

Was noch bei der Premiere auch 90 Minuten dauerte, hat er kurz danach auf 80 Minuten kondensiert und ins Tourprogramm gefügt. Im schwarzen Kabinett beginnt das Stück: Einzelne Paare treten an der Hand gefasst auf, stützen sich bei gegenseitiger Balance und machen weiteren Paaren Platz. Wie ein oft enorm langsamer Fries zieht der Tanz vorüber. Mitteilen will er nicht mehr und nicht weniger als die schier unendliche Vielfalt, sich mit dem Körper und seinen Extremitäten in stetem Fluss zu bewegen. Da verharren Tänzer nach dem Sprung in einer Pose, um plötzlich den Oberkörper abklappen zu lassen, sich zu wenden; da ballen sich Leiber zur flüchtigen Skulptur im gegenseitigen Abstemmen. Keiner emotionalen oder gar erzählenden Aussage dient dieser Kontakt, lediglich der Suche nach rein funktionalem, abstraktem Miteinander. Das fordert auch die Bereitschaft des Betrachters, sich die Schönheit des scheinbar unbeteiligt agierenden, purer Ästhetik verpflichteten Körpers zu erschließen.

Dass der Tanz für ihn einzig Bewegung in Zeit und Raum sei, ist Cunninghams lebenslanges Credo. So erfand er separat den Tanz und konfrontierte ihn erst danach mit einer zeitgenössischen Komposition. Das sicherte nach seiner Überzeugung die völlige Unabhängigkeit der beiden Künste, verlieh ihrer Kollaboration etwas Zufälliges, wie es im Alltag begegnet. Hinzu kamen die Kostüme und die Dekoration als ebenfalls eigenständige Teile des Gesamtprozesses. Namhafte Avantgarde-Künstler wurden dabei Cunninghams Weggenossen, von John Cage, seinem Lebenskameraden über ein halbes Jahrhundert, bis zu Robert Rauschenberg, Jasper Johns, Andy Warhol. Gemeinsam mit ihnen eroberte Cunningham dem Tanz neues Terrain jenseits jeglicher Erzählstruktur. Auch „Nearly 90“ huldigt diesem Prinzip. In John Paul Jones‘ und Takehisa Kosugis Klangraum aus Viola und Violine rauscht und ratscht, fiept und dröhnt es, ohne Anhaltspunkte für den Tanz zu bieten. Der geht seinen eigenen Weg, mit einer Folge kleiner Formationen, gegen Ende mit kurzen Soli voll kreativer Energie. Christine Shallenbergs Licht dringt erst spaltweise unter dem Schwarz des Rückvorhangs hervor, ersetzt ihn schließlich ganz, lässt später Streifen gaukeln. Über letzter Beschäftigung mit Hebefiguren erlöschen Klang und Licht.

Ihre Persönlichkeit macht die 13 Cunningham-geschulten Tänzer zu mehr als nur tanzenden Materieteilchen. So hingebungsvoll sie sich dieser sehr speziellen Stilistik aus klassischen und modernen Elementen widmen, so hingebungsvoll hat ihr Leiter sie bedacht. Sein Testament verfügt zwar die Auflösung des „Instruments“ Company, stattet die Tänzer und Musiker jedoch mit einem Übergangsgeld in neue Berufe aus. Weiterhin verwaltet ein Trust die Rechte an Cunninghams Choreografien. Sein Werk ist, mittlerweile digital aufgezeichnet, wie Cunningham lange seine Stücke per Computer kreierte, im Internet zugänglich. Notizen und Filme verwahrt die New York Public Library, Bühnenbilder, Kostüme das Walker Arts Center Minneapolis. Zunächst jedoch gibt es, neben reichem Rahmenprogramm, dort ein Wiedersehen mit frühen Werken, „Suite for Five“, „Antic Meet“, „Duets“, wo Cunningham sein Berlin-Debüt hatte: in der Akademie der Künste.

www.merce.org

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern