Zuviel Balanchine?

Eine amerikanische Debatte

oe
Stuttgart, 12/01/2010

In Amerika ist eine heftige Debatte entbrannt. „Are We Overdosing Balanchine?“ titelt die Zeitschrift „Dance Magazine“ in ihrer Januar-Ausgabe eine Rundfrage, an der sich etwa ein Dutzend Leiter amerikanischer Kompanien beteiligt haben. Ausgelöst wurde sie durch einen provokatorischen Artikel in der „Washington Post“, in dem gefordert wurde „Make Room Onstage for More Than One Genius“, in dem die Überlastigkeit an Balanchine-Balletten in den Repertoires beklagt wurde. Die meisten Antworten stammten von Persönlichkeiten, die hierzulande herzlich unbekannt sind. Aber es sind auch ein paar prominente Persönlichkeiten darunter.

Wer kennt schon Annabella Lopez Ochoa oder Ian Webb vom Saratoga Ballet? Dagegen gehört Karen Kain, die Chefin des National Ballet of Canada, zweifellos zu den führenden Persönlichkeiten der nordamerikanischen Szene. Sie weist darauf hin, dass ihre Kompanie ein reichhaltiges Repertoire hat, „eine lange Tradition an dramatischen Balletten, Klassikern und zeitgenössischen Werken, und wir haben Künstler, die tanzen und schauspielern können – kein Zweifel. Wir tanzen auch Balanchine, weil er Meisterwerke schuf. Wenn man nicht Balanchine gut tanzen kann, kann man sich nicht wirklich eine Ballettkompanie nennen.“ Sie plädiert eindeutig pro Balanchine und weist darauf hin, dass es ja auch Choreografen gibt, die eindeutig nicht unter dem Einfluss von Balanchine stehen – zum Beispiel Wheeldon und Ratmansky (wobei man bei Wheeldon immerhin fragen kann, ob er während seiner Zeit beim New York City Ballet nicht doch auch ein gehöriges Quantum an Balanchine verinnerlicht hat).

Peter Anastos vom Ballet Idaho weist den Vorwurf entschieden zurück: „Das kommt mir so vor, wie wenn man Orchestern vorschlüge, sie sollten statt Mozart mehr Milli Vanilli spielen“ und verweist auf die Reichhaltigkeit der heutigen Szene mit Bill T. Jones, Mark Morris, Pina Bausch und Twyla Tharp. Er schließt: „Historisch gesehen, ist es wahrscheinlich, dass Balanchines Zeit vorübergehen wird. Aber ich bin froh, dass es mich dann nicht mehr geben wird.“ Und Susan Jaffe vom Princeton Ballet pflichtet ihm bei: „Wir stehen nicht unter einem Fluch von Balanchine, sondern sind gesegnet von ihm.“ Sie wendet sich auch gegen den Vorwurf, dass es zu wenig Handlungsballette gäbe. „Ich habe nichts gegen handlungslose Ballette, solange sie über Musikalität und eine bestimmte Pointe verfügen. Kylian zu Beispiel bedient sich nicht immer einer Story, und doch spricht er Bände, was das Wesentliche des Seins betrifft durch symbolische und archetypische Bilder.“ Und was Robert Weiss, Künstlerischer Direktor des Carolina Ballet, angeht, ist er natürlich ein eingefleischter Balanchine-Fan, der überzeugt ist: „Die Leute praktizieren das Balanchine-Repertoire, weil es turmhoch dem, was vor oder nach ihm kam, überlegen ist.“

Immerhin melden sich auch ein paar Gegenstimmen zu Worte, darunter Virginia Johnson, Künstlerische Direktorin des Dance Theatre of Harlem, die bei aller uneingeschränkten Bewunderung für Balanchine zu bedenken gibt, dass es seinen Balletten nicht so sehr an Kommunikation einer Handlung mangelt, wohl aber an dem, was sie „communication of the human reality“ nennt. Als positives Beispiel nennt sie Ashtons „Enigma Variations“: „Es ist ein exquisites Werk, denn es ist Tanz, doch was man auf der Bühne sieht, sind menschliche Verhältnisse. Man fühlt diese Humanität.“ Und Christopher Hampton aus London meint, dass Amerika vielleicht unter einem Übermaß an den gleichen Balanchine Balletten leidet, und dass er persönlich „nicht ein Programm mit drei Balanchine-Balletten verkraften könne“. Und Karol Armitage, die Choreografin aus New York City, die man eher der Off-Szene zurechnet, macht den amerikanischen Kompanien eher den Vorwurf, dass sie so viel Balanchine bringen, weil sie keine Persönlichkeiten an ihrer Spitze haben, die eine Vision haben, die darüber hinaus führt.

Gern hätte man gewusst, wie denn Edward Villella vom Miami City Ballet oder Helgi Tomasson vom San Francisco Ballet oder Mikko Nissinen vom Boston Ballet darüber denken, aber sie sind leider nicht befragt worden. Eine rein amerikanische Debatte? Wenn wir uns unsere kontinentaleuropäischen Kompanien ansehen, so können wir uns gewiss nicht über ein Übermaß von Balanchine-Choreografien in ihren Repertoires beklagen. Hamburg, Berlin, Stuttgart und München, auch Zürich, präsentieren ihre Balanchine-Einstudierungen wohldosiert als Juwelen ihres Repertoires – und die kleineren Kompanien wie etwa Mainz und Karlsruhe sind glücklich, wenn sie ihrem Publikum einzelne Balanchine-Ballette präsentieren können, denn das setzt ja die Einwilligung des amerikanischen George Balanchine Trust voraus, der die Lizenz dazu nur unter der Voraussetzung einer perfekten Beherrschung der technischen Ansprüche erteilt. Insofern sind sie nach wie vor Maßstab des künstlerischen Reifegrads einer Kompanie. Persönlich kann ich dazu nur sagen, dass ich mir sehr ein wohl ein reines Balanchine-Programm vorstellen könnte – etwa mit „Apollo“, „Vier Temperamente“ und „Agon“. Ob ich allerdings, in New York lebend, mit dem Repertoire des Nes York City Ballets glücklich würde, ist eine andere Frage.

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