Wieviel Premiere darf's denn sein?

Cranko, Forsythe, Kylián und Scholz im neuen Programm des Stuttgarter Balletts

oe
Stuttgart, 06/02/2010

In der Ankündigung des neuen Programms heißt es zwar noch „Premiere“, doch, wenn denn laut Wörterbuch die Premiere eine Ur- oder Erstaufführung signalisiert, so kann bei der neuesten Offerte der Stuttgarter Kompanie nicht die Rede davon sein. Denn im Grunde handelt es sich um vier Wiederaufnahmen, von denen die älteste, Crankos „Opus 1“, bereits 44 Jahre zählt (immerhin: im Rückblick auf die Stuttgarter Opernspielzeit 1965/66 gibt es keine einzige überlebende Produktion – im Ballett hingegen vom gleichen „Premierenabend“ am 7. November 1965 noch eine der Kronjuwelen des Repertoires: MacMillans „Lied von der Erde“). Und Kyliáns „Vergessenes Land“ stammt auch schon aus dem Jahr 1981, während Uwe Scholzens „Siebte Sinfonie“ Jahrgang 1991 ist und Forsythes „The Vertiginous Thrill of Exactitude“, uraufgeführt 1996 vom Ballett Frankfurt, seine Stuttgarter „Premiere“ vor gut acht Jahren hatte.

Doch nachdem die Stuttgarter Ballettdirektion im November bereits die beiden MacMillan-Wiederaufnahmen des „Lied von der Erde“ und des „Requiem“ als Premiere unter dem Titel als „Lieder von Leben und Tod“ annoncierte, braucht man sich nicht darüber zu wundern, wenn diesmal gleich vier alte Bekannte aus dem Repertoire-Antiquariat ihr fröhliches Comeback feierten. Doch vielleicht sollten wir uns für diese Art von Wiederaufnahmen einen neuen Begriff einfallen lassen. Wie wär´s denn mit der Klassifizierung als „Nostalgière“? Tatsächlich konnte man ganz nostalgisch werden, betrachtete man die alten Besetzungszettel: „Opus 1“ von 1965 mit der damals gerade einundzwanzigjährigen Birgit Keil und dem gleichaltrigen Richard Cragun, oder „Vergessenes Land“ (Cranko war bereits acht Jahre tot), an dem dann schon unter anderen Melinda Witham und Sarah Abendroth, Christian Fallanga, Christopher Boatwright und Tamas Detrich beteiligt waren, oder Scholzens „Siebte Sinfonie“ mit Beatriz de Almeida, Claudia Shinn, Wolfgang Stollwitzer, Roland Vogel und Mark McClain, beziehungsweise Forsythe mit Douglas Lee, Julia Krämer, Katja Wünsche, Patricia Salgado und Thomas Lempertz. Dies jedoch nur der Erinnerung halber, denn die neue Premiere, die keine war, ließ an tänzerischer Vitalität nichts zu wünschen übrig. Ganz im Gegenteil!

Wenn die Ankündigung noch befürchten ließ, dass hier ein paar Staubfänger aus den Verliesen des Repertoires reanimiert würden, so hatte man von Anfang an den Eindruck, dass es sich eher um die Spezialabteilung des Stuttgarter Ballett-Weinkellers mit vier Spitzen-Cuvées großer Jahrgänge handelte. Das begann gleich mit dem ersten Paukenschlag zur „Sinfonia di Requiem“ von Benjamin Britten für Kyliáns „Vergessenes Land“: was für eine dicht gewobene, eng mit der Musik verschwisterte Choreografie, mit der von Sue Jin Kang und Filip Barankiewicz angeführten Kompanie in Rückenansicht sich in den Hintergrund vorarbeitend und den abgeknickten Körpern und weit ausgebreiteten hängenden vogelartigen Armen (genial dann der Übergang mit den einzeln wegbrechenden Paaren zu dem von Katja Wünsche und Alexander Zaitsev dominierten zweiten Satz).

Folgte Crankos Studie zu Anton Weberns Passacaglia, in der sich Alicia Amatriain und Jason Reilly (wie gut, dass er uns erhalten bleibt) als Paar aus der Gruppenskulptur herauskristallisieren, wie aus einer Plastik von Rodin, um gemeinsam ihren Weg zu gehen, auf dem dann Reilly allein zurückbleibt. Große Musik – ausschließlich an diesem Abend, wie wohltuend, auch wenn man seine Zweifel an dem übertourten Tempo des vierten Satzes aus Schuberts neunter Sinfonie in Forsythes „The Vertiginous Thrill of Exactitude“ haben mochte. Doch wie das von dem Quinett der Elizabeth Mason, Anna Osadcenko und Hyo-Jung Kang nebst den beiden geradezu diabolisch virtuosen Männern Marijn Rademaker und Evan McKie über die Bühne gejagt wurde, ließ schon beim bloßen Zusehen den Atem stocken.

Und dann also auch noch zum Schluss Beethovens Siebte von Uwe Scholz (die in ihrem Beginn den Bogen schließt zum Anfang von Kyliáns „Vergessenes Land“): Wie Scholz hier die Musik strukturiert, bis in die Beleuchtungswechsel, das ruft einmal mehr trauernd ins Gedächtnis, was für einen Choreografen von Format wir an ihm verloren haben (und wir, das sind diejenigen, für die die Symbiose von Musik und Tanz noch immer das A und O des Balletts ist). Und wenn Beethovens Siebte als Apotheose des Tanzes fungiert, so ist die „Siebte Sinfonie“ von Uwe Scholz die Apotheose des Stuttgarter Balletts: eine Hommage an Terpsichore, die Muse des Tanzes, angeführt von Maria Eichwald und Jason Reilly, Myriam Simon und Alexander Jones – kein Wunder, dass die Tänzer aus aller Welt Schlange stehen, um Mitglieder einer Kompanie zu werden, die über ein solches Repertoire verfügt! Übrigens: die Besucher, die irritiert waren, ob sie denn in dieser Vorstellung wirklich nur ein Phantomorchester und einen Phantomdirigenten gehört haben, da ja auf dem Besetzungszettel weder ein Orchester noch ein Dirigent genannt wurden, seien versichert, dass es sich real um das Staatsorchester und James Tuggle gehandelt hat.

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