Die Königinmutter, der König und die Schwanenprinzessin

Wiederaufnahme von „Illusionen – wie Schwanensee“ beim Hamburg Ballett

Hamburg, 25/04/2010

Wer gerne wissen möchte, warum das Ballett in der Hamburgischen Staatsoper eine Auslastung von satten 95 Prozent vorzuweisen hat (die Oper selbst bringt es auf 80 Prozent, wie der Geschäftsführende Direktor Detlef Meierjohann anlässlich der Spielzeit-Pressekonferenz neulich mitteilte), wer wissen möchte, warum die ansonsten eher zurückhaltenden Hanseaten in Scharen die Theaterkasse stürmen, wenn Ballett auf dem Spielplan steht, der möge versuchen, eine der Restkarten für John Neumeiers Version von „Schwanensee“ zu ergattern. Die Vorstellung zur Wiederaufnahme nach sechs Jahren Pause am 23. April geriet zu einem Triumph für den Hamburger Ballett-Intendanten und seine Tänzer, aber auch nicht minder für die Hamburger Philharmoniker unter Simon Hewett, die zusammen mit der phänomenalen Konzertmeisterin Joanna Kamenarska-Rundberg einen grandiosen Tschaikowsky-Klangteppich ausgebreitet haben.

Neumeier Interpretation des so oft verkitscht-schwülstig anmutenden Klassikers aller Ballett-Klassiker, schon 1976 entstanden, ist aktueller denn je. Die tragische Verstrickung des Bayern-Königs in seine Vorstellungswelten zu kombinieren mit der surrealen Geschichte der Liebe eines Prinzen zu einer verzauberten Prinzessin ist ein Geniestreich der Sonderklasse. Hier können selbst in Nebenrollen kleine Bravourstückchen abgelegt werden (z. B. der „Schmetterling“ von Patricia Tichy, die aus jeder Rolle etwas zu machen versteht, der „Bolero“ mit der immer stärker werdenden Mariana Zanotto), vor allem aber beließ Neumeier die großen Edelsteine des Originals: den weißen Akt und den Grand Pas de Deux im dritten Akt. In dieser Dosis und derart eingebettet in eine spannende Doppelung des Königs mit seinem Alter Ego, dem „Mann im Schatten“, können diese Glanzrollen umso mehr ihre Brillanz entfalten.

Vor allem, wenn sie so getanzt werden wie jetzt in Hamburg. Es war eine Vorstellung der Superlative bei vielen Rollendebuts: Erstmalig verkörperte Alexandre Riabko die schwierige Rolle des Königs, Herrscher wider Willen, Sehnsuchts-Prinz einer verzauberten Schwanenprinzessin und Sohn einer dominanten Mutter zugleich. Es gibt kaum eine männliche Hauptrolle in Neumeiers Balletten, die dieser großartige Tänzer nicht ausfüllen könnte und auch nicht bereits aufs Feinste beseelt hätte. Jetzt also auch den schwierigen „König“, für den der unvergessene Max Midinet bei der Uraufführung die Messlatte himmelhoch gehängt hatte. Sascha Riabko nimmt diese Hürde grandios. Wie er sich – innerlich zögernd und zaudernd, zerrissen in seinen Wahnvorstellungen, und dann doch ganz gehorsamer Sohn – der Mutter unterordnet (atemberaubend in ihrer Eleganz, ihrer Grandezza und zwingenden Autorität: Anna Polikarpova), wie er dem Zauber der Schwanenprinzessin erliegt, und wie er vor allem im dritten Akt im Grand Pas de deux schlagartig alle Schwermut abwirft und furios mit weitgreifenden Sprüngen königlich brilliert, um dann umso gnadenloser abzustürzen und alle, auch eben diese Mutter, zu brüskieren, – das ist außergewöhnlich und kann sich sowohl mit den Interpretationen Max Midinets messen als auch mit Jiří Bubeníček und Vladimir Derevianko – allesamt herausragende und prägende Charakterdarsteller in dieser Rolle.

Carolina Agüero als Prinzessin Natalia bleibt Riabko da an Brillanz einiges schuldig (vor allem beim Grand Pas de deux), entwickelt aber unmittelbar danach in der Szene, als sie den König noch einmal in seiner geisteswirren Einsamkeit aufsucht, eine derart anrührende Innigkeit, dass es völlig egal ist, wie viele Fouettés sie zuvor gezwirbelt hat und ob sie dabei gewackelt hat oder nicht. Denn diese Ratlosigkeit, diese Verzweiflung und diesen Schmerz zu vermitteln, ist ungleich schwieriger.

Einer der unbestrittenen Höhepunkte des Abends jedoch ist Silvia Azzonis Odette im weißen Akt. Eigentlich kennt man solche fließend-schwebenden Schwanen-Arme nur von russischen Tänzerinnen ... Azzoni, gebürtige Italienerin, beweist, dass man nicht bei Bolschois oder Mariinskys in die Schule gegangen und auch nicht groß gewachsen sein muss, um eine veritable Schwanenprinzessin zu sein. Und sie beweist auch, dass es auf dieses i-Tüpfelchen an Perfektion ankommt, wenn die Odette wirklich glaubwürdig sein will. Sie zelebriert diesen Akt in einer Art und Weise, dass die Zuschauer den Atem anhalten. Sie hat nicht nur den König im Griff, sondern die gesamte Bühne und das Auditorium bis hinauf zur letzten Reihe des vierten Rangs – 1680 Zuschauer atmen mit ihr, fühlen mit ihr, schmelzen mit ihr dahin. Ich habe seit der Uraufführung 1976 viele, viele dieser Neumeier-Schwanensee-Aufführungen gesehen – es ist selten vorgekommen, dass eine Tänzerin ihr Publikum derart in den Bann geschlagen hat. Brillant auch Hélène Bouchet mit schwerelosen Balancen als Prinzessin Claire und Thiago Bordin als nobler Graf Alexander. Carsten Jung spiegelte des Königs Alter Ego als „Mann im Schatten“ mit zwingender Ruhe und oszillierte als übermütiger Clown wie als Zauberer Rotbart – nie ganz zu fassen, und doch ganz da.

Auch wenn beim Corps de Ballet im zweiten Akt bei den Schwänen noch einiges zu „putzen“ ist (da haperte es noch an der unerlässlichen Synchronie der 20 Tänzerinnen, wenngleich die vier kleinen Schwäne und die beiden großen prima gelangen), so zeigte doch diese Aufführung, dass das Hamburg Ballett wohl eine der wenigen Kompanien ist, die einen Klassiker wie „Schwanensee“ auf zeitgemäße Art auf die Bühne zu bringen vermag. Die Ovationen des Publikums sprachen jedenfalls eine eindeutige Sprache.

Weitere Vorstellungen am 28. und 30. April sowie am 2. Mai (nachmittags und abends) und im Rahmen der Ballett-Tage am 20. Juni.
Kartentelefon 040-356868 oder 
www.staatsoper-hamburg.de

 

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