Wer vergisst, kann mehr

„Revolver besorgen“ von Helena Waldmann bei Dance 2010

München, 09/11/2010

Demenz als Chance zu betrachten, scheint verwegen. Zu groß ist die Angst des Menschen, am Ende des Lebens sich selbst zu verlieren. Die Berliner Choreografin Helena Waldmann will das gefürchtete Nichts trotzdem nicht als Fluch nehmen. Ihr Stück „Revolver besorgen“, das beim Münchner DANCE-Festival uraufgeführt wurde, dringt in die Erlebniswelt einer Vergessenden ein und findet dort viel Positives.

Ballerina Brit Rodemund zeigt den Abstieg von der hoch strukturierten Geisteswelt zum improvisierten Individualverstand perfekt: Anfangs marschiert sie zu einer Strauß-Melodie. Dann wechselt sie zu Ballettschritten, gelangt zum Ausdruckstanz und endet schließlich bei Gesichts- und Bodenarbeit. Das Ich wird chaotischer – doch nicht der Demente scheitert am Konventionellen, sondern das Konventionelle ist unpassend für den Dementen, so herum sieht es Waldmann. Daher röchelt Rodemund zu Developés und Arabesken ziemlich ungut, bei Improvisationen hingegen strahlt sie.

Wer vergisst, kann mehr, demonstriert Waldmann. Demente erforschen nicht nur ungeniert ihren Körper, sie können auch so lange und tief in Gedanken wühlen, wie ein Gesunder niemals Zeit und Lust dazu hätte. Aus diesem Wühlen entstehen neue Ideen: In diesem Fall die eines Revolvers, mit dem sich der feindlichen Welt der Konventionen entfliehen ließe. Rodemund formt eine ihrer leeren Plastiktüten – sie stellen Erinnerungen dar – zu so einer Waffe. Doch letztlich zerknüllt sie sie und jongliert damit weiter. Vergessen, das heißt nicht nur Struktur verlieren, das heißt auch ungebremst kreativ sein, nicht an Altem kleben. Diese Hoffnung auf eine ewig junge Geisteswelt versteht Waldmann durchaus zu wecken. Und doch ist das Ganze unheimlich. Bei den Audioeinspielungen einer Gehirnautopsie, oder einer Sexualhelferin bei der Arbeit, ist das Ende der Romantik schnell erreicht. Auch der Schuss, der Anfang und Ende der in „Revolver besorgen“ abgebildeten Krankheit markiert, lässt das Blut in den Adern gefrieren. Das große Vergessen ist und bleibt ein radikaler Abschied von allem. Helena Waldmanns Stück ist da nur ein Tröste-Lichtlein.
 

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