Schwarzer Schnee von gestern

„NieuwZwart” von Wim Vandekeybus enttäuschte im Berliner HAU

Berlin, 04/02/2010

Der Auftakt des Abends scheint den Höllenfantasien eines Hieronymus Bosch entsprungen: Sieben nackte verkrümmte Körper wühlen sich im Halbdunkel durch Schichten goldener Lebensrettungsfolie. Überlebende einer Katastrophe? Neugeborene Gladiatoren in einer feindlichen Welt? Metallisches Hämmern ertönt, panisches Atmen und Schreie werden laut. Drei Männer in blauen Anzügen packen die zuckenden Gestalten erbarmungslos, leuchten ihnen mit Neoröhren in die Augen und unterwerfen sie mysteriösen Untersuchungen. Bereits mit diesem Anfangsbild macht Wim Vandekeybus klar, dass es ihm um das schonungslose Ausloten menschlicher Extremzustände geht. 90 Minuten später, wenn sich das gleiche Szenario in leicht abgewandelter Weise wiederholt, haben Zuschauer und Tänzer einen Höllentrip aus gewalttätigen Gruppenritualen, Lust und Schmerz hinter sich, bei dem niemals völlig klar wird, ob die bis zum Überdruss zelebrierten Gesten der schmerzlichen Revolte der Befreiung des Selbst oder einfach nur seiner wütenden Betäubung dienen sollen.

Vandekeybus, der Mitte der 80er Jahre gemeinsam mit Alain Platel und Anne Teresa De Keersmaeker zur Speerspitze einer flämischen Tanzrevolution gehörte, die Körper und Geist von Konventionen befreite und dabei weltweit Erfolge feierte, vertraut auch in seinem neuesten Spektakel „NieuwZwart” ganz auf die Leiblichkeit seiner Interpreten. Die sieben jungen Frauen und Männer stürzen sich in existenzielle Kämpfe, rotieren unablässig um die eigene Achse, stoßen einander, würgen einander, robben, springen und platschen auf den harten Boden, bis auch dem letzten Zuschauer klar wird, dass hier der Körper im Dienst einer tieferen Wahrheitssuche steht. Fernab der analytischen und repräsentationskritischen Herangehensweise einer jüngeren Choreografengeneration zieht Vandekeybus alle Register der Überwältigungsästhetik, lässt es blitzen und donnern und fährt gar eine waschechte Rockband auf, um seine Interpreten in ohrenbetäubender Lautstärke von einem Bravourstück zum nächsten zu peitschen.

Dabei ist jedes einzelne Element der brachialen Show selbstverständlich von ausgesuchter Qualität: Die Tänzer sind atemberaubende akrobatische Virtuosen, das Rocktrio unter der Leitung von dEus-Gitarrist Mauro Pawlowski oszilliert zwischen hypnotischen Strudeln brachialen Lärms und fein ziselierten Lyrismen, und die charismatische Performerin Kylie Walters, die mit ihren hochstehenden blonden Haaren wie eine apokalyptische Wiedergängerin des „Kleinen Prinzen” wirkt, rezitiert dazu gekonnt suggestive Textfragmente des belgischen Schriftstellers Peter Verhelst. Während die Körper aufeinanderprallen, ist raunend von Naturerfahrungen, dem Ausgesetztsein in der Wildnis und der kindlichen Sozialisation die Rede.

Dennoch will sich die aus hochkarätigen Einzelstücken zusammengesetzte Produktion nicht recht zu einem Ganzen fügen. Trotz einiger packender Bilder - ein ganz in goldene Folien gewickelter Tänzer, der wie ein bizarres Phantasiewesen durch den Raum rotiert, drei Frauen, die in anatomisch unmöglichen Positionen auf den hochgestreckten Beinen ihrer männlichen Partner zusammensinken oder die kindlich-naive Begegnung zwischen einem Affenmenschen und einer nervösen Liegenden - hat „NieuwZwart” zu wenig dramaturgische Substanz, um sein Publikum über die gesamten eineinhalb Stunden zu fesseln, oder gar zu interessieren.

Zwar scheint es offenkundig, dass es Wim Vandekeybus in seinem Stück um die feine Grenze zwischen Selbstbestätigung und Selbstverletzung geht, doch stellen sich die wuchtig aufgefahrenen Mittel selbst viel zu wenig in Frage, um auch beim Zuschauer den Wunsch nach Reflexion zu wecken. Vandekeybus’ Tänzer bleiben körperlich beneidenswerte Virtuosen, auch wenn sie uns von tiefen Traumata erzählen wollen. Im Gegensatz zu den körperlichen Beschädigungen und neuronalen Störungen eines Meg-Stuart-Stücks ist bei Vandekeybus die Tanz-Welt noch in Ordnung. Und gerade dieser ungebrochene Glaube an den Körper und die Theatermaschinerie macht den flämischen Choreografen heutzutage zu einem Anachronismus. Somit ist sein „NieuwZwart” („Neues Schwarz”) leider schwarzer Schnee von gestern. 

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