Dramatische Entwicklung: Die NRW-Tanzszene

Der Bericht des NRW-Landesbüro Tanz zur Lage der freien Choreografen

Köln, 04/12/2010

328 Gastspiele haben die freien Tanzkompanien 2009 auf die Tanzbühnen des Landes gebracht. Eine Vielzahl von Stilvarianten, neue theatrale und choreografische Ansätze begeisterten das Publikum. Viele junge Talente bereichern inzwischen wieder die Szene. Das will so gar nicht zusammenpassen mit dem „Bericht über selbständige Choreographen und Tanzcompagnien in Nordrhein-Westfalen“, den das in Köln ansässige NRW-Landesbüro Tanz im September vorgelegt hat. Er zeigt ein eher trübes als sich aufklarendes Bild vom Tanz in NRW.

Immer weniger Kompanien produzieren immer weniger Tanz und dieses weniger wird auch noch immer seltener gezeigt. Kajo Nelles, Geschäftsführer des Landesbüro Tanz, spricht von einer „dramatischen Situation“. Statt 104 freien Choreografinnen und Choreografen (2007) gibt es heute nur noch 92 in NRW. Kontinuierlich gehen diese Zahlen zurück. Eine dramatische Entwicklung, die gestoppt werden muss, da sonst eine ganze Kunstsparte nach und nach austrocknet. Zwölf dieser 92 Tanzschaffenden, oder 13%, wie der Bericht akribisch erfasst, haben im letzten Jahr überhaupt kein Tanzstück produziert. Aber immerhin eine Mehrheit von 52 Choreografen haben im Berichtszeitraum mehrere Stücke inszeniert. Nach dem Motto „Die Spreu trennt sich vom Weizen“, so Kajo Nelles, könnte diese Entwicklung als eine weitere Professionalisierung der Tanzszene interpretiert werden. Sie kann aber auch als Indiz für eine an Geschwindigkeit zunehmende Talfahrt für die selbständigen Compagnien angesehen werden.

Welcher Sichtweise folgt das Landesbüro Tanz? Welche ist zutreffend? Möglicherweise sogar beide. Leider bleibt der Bericht bei der vorwiegend statistischen Erfassung der Entwicklung stehen. Um die Zahlen substanziell zu untermauern, sollte er unbedingt auch Ursachenforschung betreiben. Die Zwischentitel sprechen für sich: Einbruch der Produktionstätigkeit. Gastspiele auf dem Tiefststand. Auslandsmarkt bricht ein. Schlimm. Dramatisch. Unvorstellbar. Nüchtern zählt der Bericht die Fakten auf. Angesichts dieser Entwicklung wird es Zeit, dass sich auch die Tanzwissenschaft aufgerufen fühlt, den Ursachen forschend auf den Grund zu gehen. Allemal besser als die übergewichtete historisierende Forschung.

Dann könnte auch gleich danach gefragt werden, ob im Tanzland NRW nach den richtigen Konzepten gefördert wird. Denn ganz sicher ist die dramatische Lage auch von denen mit verschuldet, deren Job es eigentlich ist, den Tanz zu fördern. Es scheint als würden zu viele Ämter und Institutionen gleichzeitig nach ganz verschiedenen Förderkriterien fördern. Ein Künstler ohne eigenes Management hat im undurchsichtigen deutschen Förderdickicht kaum eine Chance. Doch wie soll er einen Manager bezahlen, wenn die Mittel gerade mal zum künstlerischen Überleben reichen? Eine Klage von Choreografen stimmt in diesem Zusammenhang besonders bedenklich: Manch Förderer missversteht seinen Job und agiert wie ein patriarchalischer Kunstmäzen. Wenn also der Bericht des NRW-Landesbüro Tanz aufrüttelt, er solch vordemokratische Haltungen zum Wanken bringt, wenn er zu neuen Sichtweisen alter Probleme führt, dann hat sich die aufwändige Farbbroschüre auf jeden Fall gelohnt.

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