„The Shift of Focus“ von Isabelle Schad, Tanz: Przemek Kaminski

„Das Schlechteste zweier Welten“

Studie „Systemcheck“ untersucht Einkommensbedingungen und soziale Absicherung in den freien darstellenden Künsten

Zahlen bitte! Der Bundesverband Freie Darstellende Künste legt mit „Systemcheck“ eine umfassende Studie zur prekären Situation der Künstler*innen in der Freien Szene vor - und formuliert elf Handlungsempfehlungen.

Berlin, 12/10/2023

„Es ist wie im wilden Westen. Wir müssen uns herumschlängeln, um zu überleben, aber wir wollen das auch schaffen. Das hat etwas mit Würde zu tun.“ Anica Happich vom ensemble-netzwerk beschreibt bei der Vorstellung der Studie „Systemcheck“, die der Bundesverband Freie Darstellende Künste (BFDK) in Auftrag gegeben hat, die Binnensicht auf die Situation von Künstler*innen in den freien darstellenden Künsten. Gefangen zu sein zwischen mehreren Jobs, einige sozialversichert, andere nur über die KSK bei meist geringen Honoraren und dabei malträtiert von einer überbordenden Bürokratie, um die damit verbunden Statuswechsel zu organisieren, ist erschöpfend. Noch dazu, weil etwa die Einzahlungen in die gesetzliche Arbeitslosenversicherung selten zu genug Zeiten führen, um tatsächlich im Falle der Fälle Arbeitslosengeld zu beantragen. „Wir bekommen das Schlechteste zweier Welten“, fasst sie auf der Pressekonferenz im Berliner Podewil zusammen.

Die Studie, die der BFDK zusammen mit dem Institut für interdisziplinäre Arbeitswissenschaft, der Universität Hannover und dem Institute for Cultural Governance in Kooperation mit dem ensemble-netztwerk durchgeführt hat, bringt erstmals systematisch und umfassend Licht in die finanziellen Arbeitsbedingungen in den freien darstellenden Künsten in Deutschland. „Wir hatten da bisher nur anekdotische Evidenz“, so Axel Haunschild vom Institut für interdisziplinäre Arbeitswissenschaft. Jetzt aber gibt es gesicherte Fakten und die sind deutlich. Für mehr als 70 Prozent ist die Solo-Selbstständigkeit das tragende Fundament, rund 20 Prozent sind zudem hybrid tätig, haben neben ihrer künstlerischen Profession noch weitere Jobs, die jongliert werden müssen. Für 2020 ergab sich damit bei den Befragten ein durchschnittliches Jahresnetto von 20.500 Euro, wobei davon etwa 70 Prozent aus der künstlerischen Arbeit stammen. Das liegt knapp über dem Mindestlohn, allerdings war 2020 auch durch die Corona-Hilfen ein eher gutes Jahr. Allerdings zeigt sich auch hier eine deutliche Gender-Gap. Die Rentenerwartung liegt konservativ gerechnet bei etwa 780 Euro, also unter der Grundsicherung. Insgesamt 850 Teilnehmende haben den anspruchsvollen Fragebogen ausgefüllt und nicht nur über das letzte Jahr, sondern auch über ihre Erwerbsbiografie Auskunft gegeben.

Doch die Studie setzte nicht nur auf Statistik sondern in zahlreichen Fokusgruppengesprächen und Workshops kamen die Künstler*innen auch selbst zu Wort und diese qualitativen Gespräche, die ebenfalls ausgewertet wurden, bestätigten den Eindruck des prekären Status. Während einige sich mit diesem Bohème-Lebensstil durchaus positiv identifizieren konnten, suchten andere diese prekäre Situation zu verlassen, auch wenn die meisten eine hohe Identifikation mit ihrer Tätigkeit sahen und diese möglichst lange fortführen wollen.

Für Helge-Björn Meyer von der Geschäftsführung des BFDK ergeben sich aus den Ergebnissen zwei zentrale Forderungen: „Wir brauchen eine Verbesserung der Einkommen und wir baruchen eine Möglichkeit zum Durchversichern.“ Mit dem Anerkennen der Honoraruntergrenzen auf verschiedenen Ebenen so schon einiges passiert, aber man müsse auch die Rahmenbedingungen angehen. Meyer empfiehlt daher ein eigenes Versorgungswerk zu gründen, was eine der elf Handlungsempfehlungen an Politik und Verwaltung ist, welche die Studie formuliert. Wibke Behrens vom Institute for Cultural Governance betont, es gehe nicht darum, die Studie mit einer Schleife zu versehen und zu übergehen, sondern den Prozess weiterzutreiben in Workshops, Runden Tischen oder anderen Formaten.

Gefördert wurde „Systemcheck“ übrigens vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Vielleicht nimmt sich Bundesminister Hubertus Heil das ja mal zum Anlass, um hier tätig zu werden, denn viele der Probleme betreffen auch Branchen jenseits der Kunst – doch für die gibt es jetzt immerhin mal Zahlen.

Handlungsempfehlungen des Forschungprojekts „Systemcheck“

1. Einkommenssituation umfassend verbessern

2. Personellen Anwendungsbereich im Künstlersozialversicherungsgesetz (KSVG) ausweiten

3. Hybriderwerbstätige im KSVG anerkennen

4. Härtefallfonds gegen Altersarmut einrichten

5. Versorgungskammer gründen

6. Anpassung des Zugangs zur freiwilligen Arbeitslosenversicherung

7. Durchversicherung für Hybriderwerbstätige

8. Absicherung bei atypischen Einkommensausfällen

9. Vor, während und nach Unfällen unterstützen

10. Bemessungszeitraum für das Elterngeld

11. Garantierte Unterstützung für Gebärende

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