Subtile Provokationen

Die Eröffnungsstücke von „Tanz im August” wagen sich an gesellschaftliche Tabuthemen

Berlin, 22/08/2010

Exhibitionismus, Hässlichkeit, laszive Tabubrüche. Seit seinen Anfängen zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist der zeitgenössische Tanz eine fleischgewordene Provokation. Auch heute gelingt es der Kunstform noch, zu verstören und die gesellschaftliche Determiniertheit unseres Körpers aufzuzeigen. Auch Tanz im August, das mit 22 Jahren dienstälteste deutsche Tanzfestival, hat in seiner Geschichte mit einigen Provokationen aufgewartet. Man erinnert sich noch, wie 2006 die amerikanische Punk-Choreografin Ann Liv Young ihren nackten Körper mit Schokolade beschmierte und brüllend auf offener Bühne urinierte, oder wie vor zwei Jahren das französische Duo François Chaignaud und Cecilia Bengolea mit zwei oberarmlangen Dildos im Anus auftrat.

Nach der Eröffnung in diesem Jahr scheint es jedoch, als habe der Tanz mittlerweile auch andere, reifere Formen der Provokation entwickelt, die wesentlich weiter gehen als das Ausstellen von Nacktheit oder sexuellen Praktiken. Mit den beiden Auftaktstücken „Gardenia” und „Manta” ist den Festivalmachern ein rarer Kunstgriff geglückt: Sie haben Arbeiten eingeladen, die brisante, viel diskutierte, ja tabuisierte Themen verhandeln, aber gleichzeitig eine Form gefunden haben, die weit über die pauschalisierenden Debatten unseres Alltags hinausgeht. Beide Stücke rühren an gesellschaftliche Tabus (Alter, Transsexualität, islamischer Schleier), beide gehen von persönlichen Geschichten aus, und beiden gelingt es – zumindest eine Zeitlang -, zwischen scheinbaren Gewissheiten und Klischees eine Art „Denkraum” zu eröffnen.

In „Gardenia” entführt die transsexuelle Schauspielerin Vanessa van Durme das Publikum in eine Welt jenseits fester Geschlechtszuschreibungen, die urkomisch, anrührend und todtraurig zugleich ist. Sieben ältere Herren in Anzügen verwandeln sich in glamouröse Diven und wieder zurück und lassen dabei die Wunden von Alter, Geschlechtsumwandlung und gesellschaftlicher Ausgrenzung aufscheinen. Ausgehend von einem Dokumentarfilm über die Schließung eines Transsexuellenkabaretts in Barcelona hat Van Durme sieben Bekannte auf die Bühne gebeten, um in einer Art Schutzraum auf ein Leben am Rande der Gesellschaft zurückzublicken. Wie sie selbst erlebten ihre Mitstreiter – Transvestiten und Transsexuelle jenseits der 50 – die Einsamkeit des Andersseins im Belgien der 60er- und 70er-Jahre. Dass dabei wesentlich mehr entstanden ist als eine autobiografische Lebensbeichte, ist den beiden Regisseuren Alain Platel und Frank Van Laecke zu verdanken, die hier erstmals zusammengearbeitet haben. Platel, der legendäre Begründer der Ballets C. de la B. und Spezialist für die sensible Arbeit mit extremen Charakteren, sorgt für den nötigen bittersüßen Humor beim Spiel mit männlichen und weiblichen Posen, während sein Kollege, der Opern- und Musicalroutinier, dem Varieté eine grellbunte und zugleich anheimelnde Künstlichkeit verleiht. Ein Geniestreich ist es, zwischen den alternden Diven eine Schauspielerin um die 40 und einen blutjungen, aus der umkämpften Kaukasusrepublik Dagestan entflohenen Tänzer zu stellen, die aufzeigen, dass die angesprochenen Themen von Einsamkeit und Heimatlosigkeit universell sind. In einem anrührenden Moment des Stückes sagt die als imposante Puffmutter gekleidete Van Durme zu dem weinenden Flüchtling die tröstenden Worte: „Love always hurts, darling”. Hinter allem Humor transportiert „Gardenia” eine zutiefst humanistische Botschaft: Jeder Mensch hat seinen eigenen Schmerz und seine eigene unverrückbare Würde – und dieser Schmerz wird am besten dadurch gelindert, dass man ihn mit anderen teilt. Fast zwei Stunden lang umschifft „Gardenia” alle Fallen und Klischees, die sein Thema in sich birgt und entlässt das Publikum schließlich mit mehr Stoff zu Nachdenken als ein Großteil der zeitgenössischen Tanz- und Theaterproduktion der vergangenen Jahre.

Ähnlich subtil geht die französische Choreographin Héla Fattoumi zu Anfang ihres Solos „Manta” zu Werke. Auch sie begibt sich thematisch auf ein gefährliches Terrain, und zwar mitten hinein in die „Kopftuch-Debatte”, die endlose Diskussion darüber, ob der islamische Schleier als unmenschliche, frauenfeindliche Kasteiung oder womöglich als zu respektierende Äußerung von religiöser Zugehörigkeit und Identität zu verstehen ist. Fattoumi, die in einer gläubigen Muslim-Familie aufwuchs, nähert sich dem Schleier zunächst wie ein neugieriges, verspieltes Kind. Komplett in weiße Stoffbahnen gehüllt, verwandelt sie sich in ein Kunstwesen, dessen Konturen ebenso unklar bleiben wie seine sexuelle oder kulturelle Identität. Da wird ein Gesäß zum tanzenden Phallus, ein Arm zu einer witzigen Handpuppe – und die gesamte Tänzerin zu einem hüpfenden Zelt, in dem es brodelt und das wie eine Kerze in den Boden zu schmelzen scheint. Wenn sich Fattoumi mit ausgestreckten Armen erhebt, wirkt sie unter dem Schleier im Scheinwerferlicht wie eine machtvolle Gottesanbeterin, ein gefährlich schöner, tödlicher Manta-Rochen. Es sind diese Momente ohne direkte Wertung, die der Verhüllung einen skulpturalen Eigenwert zugestehen, die „Manta” zu einem differenzierten Stück machen. Doch leider hat die Choreografin kein Interesse daran, die Dinge in der Schwebe zu lassen. Anstatt den Zuschauer mit der verstörenden Ambivalenz von Faszination und Abstoßung allein zu lassen, zelebriert sie im letzten Drittel des Abends eine wütende Austreibung dessen, was sie als unmenschliche Verstümmelung der Frau empfindet. Zu metallischen Klängen, die Maschinengewehrfeuer oder das Rattern von Druckmaschinen suggerieren, schleudert sie keuchend alle Tücher von sich und schlüpft schließlich in Jeans und Hemd, um mit James Browns „It's a man’s world” eine trotzige Hymne auf weibliche Selbstbestimmung zu singen.

Trotz seines überdeutlichen Endes ist „Manta” gemeinsam mit „Gardenia” ein fantastisch subtiler Auftakt für ein Festival, das sich in diesem Jahr stärker auf die politischen Aspekte des zeitgenössischen Tanzes konzentrieren will. Trotzdem kommen selbstverständlich auch die Freunde der handfesteren Provokation auf ihre Kosten: In dem Stück „Still standing you”, das heute noch im HAU3 zu sehen ist, packen zwei ruppige Performer einander beherzt bei den Genitalien. Schön, dass so jeder auf seine Kosten kommt.

www.tanzimaugust.de

 

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