Absturz auf hohem Niveau

„Continu”, die neue Choreografie von Sasha Waltz, scheitert am eigenen Anspruch

Berlin, 12/11/2010

Die leere schwarze Bühne ist mit einem weißen Tanzboden ausgeschlagen. Reglos blickt ein einzelner Tänzer ins Publikum. Nackt bis auf einen hautfarbenen Slip, wirkt er dünn, angreifbar und zerbrechlich. Er hebt einen Fuß, bewegt die einzelnen Zehen, bis ein merkwürdiges Eigenleben von seinen Gliedern Besitz ergreift. Sein Kopf rutscht zur Seite, die Hände verkrampfen sich – doch immer wieder werden diese Gesten der Besessenheit durch weite Schritte zurück und raumgreifende Bögen neutralisiert. Es ist, als versuche der Tänzer ständig, Trieb und Intellekt in der Balance zu halten. Schließlich stürzt er zu Boden und bleibt zusammengerollt liegen, während die anderen Interpreten auf die Bühne strömen.

Dieser kleine, fein gearbeitete Prolog trägt bereits die ganze Essenz von Sasha Waltz' neuem Bühnenwerk „Continu” in sich. Der Kampf zwischen Geist und Körper, Ekstase und Abgeklärtheit, Abstraktion und wildem Expressionismus zieht sich durch den gesamten Abend. In zwei für sich abgeschlossenen Bildern, einer minimalistisch-abstrakten Studie und einem episch angelegten Schlachtengemälde, fasst Waltz etwas schematisch die Antagonismen der menschlichen Existenz zusammen. Dass „Continu” aus Bewegungsmaterial ihrer gewaltigen Museumsprojekte in Berlin und Rom weiterentwickelt wurde, ist besonders im ersten Teil überdeutlich zu sehen. Menschliche Reliefs werden lebendig, Männer tragen Frauen auf den Schultern im rechten Winkel an einer Wand entlang. Ohne den Raumzusammenhang, aus dem sie ursprünglich stammen, wirken diese Sequenzen wie kurze Etüden in den Disziplinen Komposition und Geometrie. Nach dieser etwas spröden Demonstration beginnt der zweite Teil mit dem Klirren von Metall und wuchtigen Paukenschlägen. 

Edgar Varèses Monumentalkomposition „Arcana” aus dem Jahr 1927 hat Waltz zu einem dunklen Taumel der Entfesselung inspiriert. Während das Schlagwerk donnert, ergießt sich eine Gruppe von 25 Tänzern aus zwei Richtungen in den Raum und bleibt dort in stetiger Bewegung. Dieses erste Bild der Unordnung ist grandios. Assoziationen von Schlachtenszenen, Stammestreffen, Volksaufständen scheinen auf, ohne sich je ganz einzulösen. So wie Varèses gewaltige Klangflächen immer wieder in disparate Einzelteile zerbersten, zerbricht auch die Gruppe immer wieder in Einzelszenen und individuelle Auftritte. Mechanisierte Kollektive stampfen im Gleichschritt, heidnische Priesterinnen stoßen sich mit hysterisch aufgerissenen Mündern imaginäre Dolche in die Brust, und immer wieder schälen sich einzelne Konfliktszenen aus der Masse heraus. Es ist eine düstere, archaische Welt, die Waltz da zeigt – irgendwo zwischen Goyas „Pinturas Negras”, Fritz Langs „Metropolis” und der heidnischen Ekstase von Pina Bauschs „Sacre du Printemps”. Die Choreografin hat sich an eine schwierige Aufgabe gewagt: Sie will die ganz große Erzählung schaffen, ohne das Geschehen jemals ironisch aufzubrechen. Humor ist bei „Continu” Fehlanzeige. Es wird gerannt, gelitten und geliebt – aber niemals auch nur im Entferntesten gelacht. Außerdem gibt Waltz nie die erzählerische Kontrolle ab. Wo bei Cunningham oder Forsythe das Bühnengeschehen in eine unendliche Vielzahl gleichzeitiger Aktionen zersplittert, lenkt sie in jedem Moment den Blick des Zuschauers und bewahrt sich die abgehobene Perspektive der allwissenden Erzählerin.

Vielleicht liegt darin auch das Manko des Abends: Alles wirkt zu komponiert, zu ausgeschrieben und durchdacht, als dass die Ausbrüche von Besessenheit wirklich glaubhaft werden könnten. Anstatt Gewalt wirklich zu erzeugen, lässt Waltz sie oft darstellen – und leider geschieht dies auf eine derart plump-naive Art und Weise, dass man sich in eine Laien-Tanztheater-Aufführung versetzt fühlt. Ganz am Ende streckt ein Tänzer den Arm aus und ahmt Gewehrschüsse nach, die nach und nach alle anderen an der Wand aufgereihten Mitglieder des Ensembles niederstrecken. Ein liebendes Paar versucht weiterzutanzen, er fällt und auch sie stirbt nach einer übertriebenen Trauersequenz. Fast möchte man wegschauen, denn mit derartigen Klischees zerstört die Choreografin letztendlich den positiven Gesamteindruck von „Continu”.

Dennoch hat Waltz wieder einmal eindrucksvoll demonstriert, wie souverän sie mit großen Gruppen umgehen kann. Auch ihre Musikalität ist erstaunlich. Inhaltlich und von seinem erzählerischen Anspruch, die große menschliche Allegorie zu liefern, wirkt das Werk jedoch arg naiv und fast altmodisch. Trotz aller Gefühlsaufladung sind die abstrakten Momente des Abends deutlich die stärkeren, die Augenblicke, wo der Konflikt zwischen Individuum und Maschine aufscheint, ohne plakativ dargestellt werden zu müssen. Somit ist Waltz selbst bei dem eingangs beschriebenen Balanceakt zwischen Abstraktion und Gefühl leider abgestürzt. Dies allerdings auf hohem Niveau.

www.sashawaltz.de / www.berlinerfestspiele.de
 

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