Aus dem Füllhorn des Stuttgarter Ballett-Repertoires

Zu Beginn der neuen Spielzeit: drei Reprisen von McGregor, Neumeier und Elo

oe
Stuttgart, 28/09/2010

Am Anfang dessen, was wir heute das Stuttgarter Ballett nennen, stand John Cranko. Dies ist die fünfzigste Jubiläums-Spielzeit der Kompanie. Doch den Auftakt des Programms machte kein Cranko-Ballett, sondern den Rahmen bildeten zwei der jüngsten Kreationen: „Yantra“ von Wayne McGregor und „Red in 3.“ von Jorma Elo, uraufgeführt vor nicht einmal drei Monaten als unbedingtes Bekenntnis zum kreativen Hier und Heute, wie es Cranko 1960 bei seinem Debüt nicht hätte schlagender formulieren können. Dazwischen gab es eine Repertoire-Reminiszenz aus dem Jahr 1986: „Fratres“ zu drei Stücken von Arvo Pärt. Das war damals eins der ersten Ballette zu Musik des estnischen Komponisten, der heute zu den meistfrequentierten musikalischen Zulieferern der Choreografen in aller Welt gehört. Es hat, beschworen von Wolf-Dieter Streicher und David Diamond als Solisten und Mitgliedern des Staatsorchesters unter der Leitung von James Tuggle, nichts von seinem exorzistisch-enigmatischen Reiz verloren.

Von Neumeier seinen damals kurz hintereinander verstorbenen Eltern gewidmet, erklärt er seine Besetzung mit einer Frau und vier Männern – vor vierzehn Jahren mit Marcia Haydée, Jean-Christophe Blavier, Randy Diamond, Benito Marcelino und Wolfgang Stollwitzer, heute mit Sue Jin Kang, Jason Reilly, Filip Barankiewicz, Friedemann Vogel und Marijn Rademaker – als eine Art Familien-Memorial mit Mutter, Vater und drei Söhnen. Und stellt sein Werk damit in eine Traditionslinie, die mit Crankos „Opus 1“ und „Die Befragung“ ihren Anfang nahm (und mit dem „Poème de l‘extase“ einen ihrer Höhepunkte erreichte). So wird die Wiederaufnahme zu einer Erinnerung an die Kontinuität, die das Stuttgarter Ballett wie heute im deutschsprachigen Theaterraum nur noch Neumeiers eigenes Hamburg Ballett kultiviert. Und so ist Cranko auch an diesem Abend gegenwärtig. Man wird sich bewusst, welche enormen Fortschritte die Tänzer inzwischen gemacht haben – und das nicht nur in technisch-virtuoser Hinsicht. Gäbe es beim Ballett wie bei den Universitäten einen Exzellenzen-Standard, die fünf Solisten des Stuttgarter Balletts verkörperten ihn in geradezu modellhafter Form (wobei man besonders dankbar dafür ist, den um ein Haar an Kanada verlorenen Jason Reilly in Stuttgart gehalten zu haben).

Die beiden anderen Ballette haben eindeutig mit ihrer Übersiedelung aus dem Schauspielhaus auf die größere Opernbühne noch an Qualität gewonnen und wirken um eine ganze räumliche Dimension erweitert. Das gilt ebenso für McGregors neurologisch-choreografische Untersuchungsanordnung der Umkehr aller Prinzipien der Danse d‘école wie für Elos sanfte Verhohnepipelung der Gespreiztheiten des klassisch-akademischen Stils. Die zweimal sechs Paare bei McGregor um Alicia Amatriain, Oihane Herrero und Anna Osadcenko nebst Evan McKie, Marijn Rademaker und Alexander Zaitsev und die fünf Solistenpaare um Maria Eichwald und Jason Reilly plus den zweimal vier Akkompagnisten, die Elo zu Tschaikowskys Zarenklassizismus (von Jewgeni Schuk und den Stuttgarter Staatsorchestralen wie musikalische Trüffel aus der St. Petersburger Confiserie serviert) kichernd über die Bühne jagt, demonstrieren brillant die höchst konträren Anforderungen, die heutzutage an Tänzer gestellt und von den Stuttgartern im feinsten Kristallschliff dargeboten werden. Bedenkt man, dass sie aus aller Herren Länder rund um den Globus nach Stuttgart gekommen sind – Migranten die meisten von ihnen – und hier „integriert“ worden sind, kommt man nicht umhin, ihrer tänzerischen „Sozialisation“ eine Vorbildfunktion auch für die ballettfernen Zuwanderer unserer Gesellschaft zu wünschen.

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