Menschen im Spiegel

Die 19. euro-scene Leipzig präsentierte Gastspiele unter dem Motto “Sonnenfinsternis”

Leipzig, 13/11/2009

Alles ist geblieben, freut sich Direktorin Ann-Elisabeth Wolff. Das resultiert aus der Partnerschaft des europaweit bekannten wie ganz Europa einbeziehenden Festivals euro-scene mit BMW Leipzig. Das Generalsponsoring der Automarke bis einschließlich 2012 zieht den Zuschuss von Stadt und Landes-Kulturministerium nach sich, was Planungssicherheit verleiht. Nach wie vor speist sich das Budget von 654.000 Euro zu 58 Prozent aus öffentlicher Förderung, die restlichen 42 Prozent werden durch Eigeneinnahmen erbracht; außer über BMW auch durch den Kartenverkauf. Der lief gewohnt respektabel: Rund 7800 Zuschauer sahen die 13 Gastspiele aus zehn Ländern in 25 Vorstellungen, was einer Auslastung von 96,4 Prozent entspricht. 32 Partner, von der Botschaft bis zur Hotellerie, trugen zum stabilen Fundament bei; unter den zehn Spielstätten waren wieder ungewöhnliche Orte. So öffnete sich jener Aufführung, die sich traditionell an Jung und Alt wendet, das ungenutzte Stadtbad, ein 1916 eröffneter Bau im maurisch dekorierten Historismus. Ehe die Restaurierung beginnt, konnte dort das Trickster Teatro aus Lugano seine Installation „h.g.” nach dem Märchen „Hänsel und Gretel” zeigen.

Auf engem Raum haben Cristina Galbiati und Ilija Luginbühl ein Labyrinth schwarz ausgeschlagener Kammern gefügt, in das sie jeweils einen Zuschauer auf halbstündige Tour in die Kindheit schicken. Stimmen aus dem Kopfhörer delegieren ihn, erinnern an Ängste beim Betreten eines dunklen Waldes, an die Begegnung mit der Gruselgeschichte um eine Kinder fressende Hexe. Kammer für Kammer betritt man, sieht Menschenknöchlein, durchquert das Knusperhaus. Am Ende bleibt jedem ein Stein für eine geläuterte Zukunft. Dass die euro-scene auf Kontraste setzt, bewies „Ruhe” vom Muziektheater Transparant aus Antwerpen. Zwischen Schubert-Liedern live sprechen zwei Schauspieler Texte ein, die 1967 im Interview mit Nazi-Mitläufern entstanden sind: Für die Krankenschwester und den Soldaten war dies die schönste Zeit ihres Lebens. Grimm-Märchen und NS-Realität im gespenstischen Miteinander. Nicht von ungefähr lautete das Motto dieser 19. Festivaledition so vieldeutig wie aktuell „Sonnenfinsternis”: Gemeint als eine Zeit des Umbruchs und Niedergangs, aber auch der Hoffnung auf neuen Aufbruch – beim Mauerfall vor 20 Jahren ebenso wie heute.

Schon vom Titel „Point of eclipse” her passte sich als Auftakt das Gastspiel vom Cullberg Ballet aus Stockholm dem Motto an, bedeutet in der Choreografie des Schweden Johan Inger, Ex-Tänzer mit internationaler Karriere, auch für die Compagnie den Neustart in eine zeitgenössische Bewegungsprache. Tanz beschloss auch das Festival: „Nuit sur le monde” der Compagnie Mossoux-Bonté aus Brüssel um Fragen des menschlichen Daseins. Selbstfindung im aufgelösten Jugoslawien thematisiert Sanja Mitrovic aus Belgrad in ihrem Zwei-Personen-Tanztheater „Will you ever be happy again?”, aus Österreich kam mit Philipp Gehmacher ein Pfadfinder neuen Bewegens, aus Berlin Jo Fabian mit seinem Theater-Tanz-Stück „Polka Dot. Ein Stilleben”. Eher verhalten geriet die Begeisterung über Tanz aus Luxemburg, den zwei Choreografen vertraten. Bernard Baumgartens „On my skin” zu Musik der Einstürzenden Neubauten lässt je zwei Frauen und Männer auf Hauterfahrung gehen, entbehrt mit amüsant eitler Egozentrik als Schluss nicht des Seitenhiebs aufs Heute, fiel jedoch sperrig, choreografisch ungelenk und unorganisch aus. Mit enormem Einsatz wirft sich in Sylvia Camardas „Gewissen des Terrors” der 14-jährige Protagonist Marcus Roydes in die Rolle eines inhaftierten Attentäters, tobt sich im Eigendiskurs um Täterschaft und Opfersein aus. Der Junge eine Naturgewalt, das Stück arg verkopft.

Selbstspiegelung verhandelten exemplarisch unterschiedlich zwei Theaterstücke. In „Staliza around” des jungen Autors Sergej Girgel bleiben zwei Männer mit der Metro stecken, immer wieder dringt der Sanfte auf den Gereizten ein. Ob sie wirklich Brüder in zufälliger Erstbegegnung sind und auch noch dasselbe Mädchen lieben, oder ob hier zwei Leben bloß spiegelbildlich zusammenprallen, lässt Sara Tokinas unaufdringlich dichte Regie offen: Gemeinsam gehen Maksim Panimatchenka und Dzianis Parshin vom Dramatischen Theater der Weißrussischen Republik aus Minsk ins Licht der Ungewissheit. Der Komplizenschaft der Weltstars Shakespeare und „Hamlet” versicherte sich Oskaras Korsunovas aus Vilnius. Gut drei Stunden lang fasziniert, was sich in der Garderobe einer Schauspieltruppe ereignet, die sich in ihren Schminktischen bespiegelt, „Wer bist du?” fragt, stücklang zu keinem Ergebnis kommt, weil sich jeder selbst misstraut, und zu eindringlichen Bildern in strenger Schwarz-Weiß-Rot-Ästhetik findet. Vaidotas Martinaitis als Polonius ist schlichtweg grandios, Ophelia als Geisha inmitten eines Meers aus Kirschblüten unvergesslich. Der Sonne entgegen marschiert zumindest die euro-scene: 2010 wird sie 20; der 10. Wettbewerb ums beste deutsche Tanzsolo findet erst 2011 wieder statt.

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