„One Song” von Miet Warlop

„One Song” von Miet Warlop

Sport, Tanz, Kolonialisierung

Euro-Scene I: „One Song” und „Coulounisation“

Die Euro-Scene 2023 ist gestartet und eröffnet zum Start mit Performances von Miet Warlop und Salim Djaferi ein weites Feld.

Leipzig, 10/11/2023

Zwischen Schwebebalken, Sprossenwand und Violine 
One Song” von Miet Warlop eröffnet die euro-scene in Leipzig

von Emma Bergmann

Das Metronom tickt unermüdlich, während die Performenden hereinkommen: ein Team, dass sich in den nächsten 90 Minuten zur völligen Verausgabung treiben wird. Auf der Tribüne feuern fünf Fans mit Schals und Slogans die Sportler*innen an. Eine in rot gekleidete Trainerin/Stadionsprecherin weist durch ihr Megaphon grölend allen ihren Platz zu. Cheerleader, Violinistin, Sänger und Schlagzeuger und andere Bandmitgliedern bahnen sich ihren Weg zur Bühne. Kurzes Aufwärmen, bevor alle zu ihren Sportgeräten eilen. Auf ihren Kostümen pranken Name und Nummer, wie bei einer richtigen Sportmannschaft. 

Und dann fängt es an, Elisabeth Klinck balanciert graziös und parallel Geige spielend auf dem Schwebebalken. Willem Lenaerts muss immer wieder hochspringen, um an die Tasten seines Keyboards zu kommen. Drummer Melvin Slabbinck eilt zwischen seinen über die Bühne verteilten Trommeln hin und her und Simon Beeckaert verbindet anstrengendes Bauchmuskeltraining mit seinem Kontrabassspiel. Den titelgebenden „One Song“ performt Sänger Jeppe Tanghe auf einem Laufband.

Das verhängnisvolle Ticken des Metronoms begleitet bei dieser von Miet Warlop mit den Tänzer*innen des NTGent erdachten Tanzperformance unbarmherzig die Wiederholungen des Songs. Das Tempo variiert, doch das Stück bleibt mühsam. Aus einzelnen Melodielementen der Musik-Sportler*innen bildet sich in Schichten der „One Song“. Die Farben der Fahne, die über der Tribüne weht, finden sich in den Outfits der wieder. Rot, wie die Stulpen, grau, wie die Oberteile und blau, wie die Schweißbänder. Bald triefen die Kostüme vor Schweiß, doch niemand hört auf, niemand macht eine Pause. Es geht weiter im Takt. Nicht nur den Musizierenden läuft der Schweiß, auch die Fans, die neben der Kommentatorin in rot immer wieder perfekt synchrone Choreografien zeigen, glänzen langsam. Schweiß tropft, die Gesichter sind rot, Anstrengung pur. Erschöpfung macht sich breit. Da kommt Cheerleader Milan Schudel ins Spiel. Er tanzt um die Bühne und stößt dabei einzelne Worte aus, die zuvor im Bühnenhintergrund angeordnet wurden. 

„One Song“ ist eine energiereiche Performance der völligen Unruhe und Verausgabung. Nach und nach fallen die Musiker*innen in Ohnmacht und vorbei ist das Stück. Die wummernden Bässe verstummen. Die Atmosphäre des gesamten 90 minütigen Stücks zieht sich auch durch die Publikumsreihen. Die Erschöpfung im Raum ist greifbar und der lange, euphorische Abschlussapplaus eine Befreiung für alle.


Welt aus Sprache und weißem Styropor 
Salim Djaferi: „Coulounisation“

von Lilly Schabacker

Ein bisschen Styropor, ein Mann auf einer Bühne und ein langer Faden. Mehr braucht es nicht. Denn Worte werden zu Welten bei „Koulounisation“ von Salim Djaferi, das gerade beim Dresdner Fast Forward Festival mit Jury- und Publikumspreis ausgezeichnet wurde. Die Kooperation mit der Euro-Scen ist neu und keine schlechte Idee.

„Was ist das arabische Wort für Kolonisation?“, ist Dajaferis Leitfrage. Der Performer nimmt die Zuschauenden mit zu seinen Verwandten und Freunden, wenn er mit ihnen über den abwechselnd als Krieg oder Revolution bezeichneten „Prozess der Entkolonialisierung“ spricht. Er lässt teilhaben am „Einbürgerungsprozess“ seiner Mutter, welcher zu Folge hat, dass nicht nur ihre Nationalität, sondern auch ihr Name sich ändern müssen. Mit Bemerkungen spitz wie Bombensplitter und subtilem Humor zeigt er das immer noch herrschende Machtgefälle zwischen Algerien und Frankreich auf.

Djaferi interessiert, mit welcher Macht sich die Kolonialisierung auch in die Sprache einschreibt. Zeigt, wie die Gewalt auf französischer Seite durch Sprache ausgeblendet wurde, wie die unterschiedlichen Perspektiven in der Geschichte, aus einer Revolution einen Krieg machen. Mit einfachem Vortragsstil, spannenden Publikumsinteraktionen und wenigen Requisiten erbaut er ganze Städte, um dort Menschen zu zeichnen und Kriege wüten zu lassen. Seine persönliche Geschichte führt einmal durch die Geschichte Algeriens.

Diese Erkenntnis ist erschütternd, das spürt man auch beim Publikum. Ist die Stimmung anfangs noch ausgelassen, fast heiter, wird sie gegen Ende des Stückes nachdenklicher. Dafür sorgen nicht nur die blutroten, tropfenden Schwämme, die im Hintergrund am aufgespannten Faden hängen, der den Raum begrenzt. Das Auftreten von Delphine de Baere (künstlerische Mitarbeit), einer angeblichen Technikerin der Diskothek, verfehlt seine Wirkung nicht. Während sie vorne anfängt die Bühne aufzuräumen, Salim Djaferi berichtigt und ihm dabei doch „bloß helfen will“ möchte man am liebsten vom Stuhl springen und sie von der Bühne zerren.

Mit der Hilflosigkeit und Wut, die man in diesem Moment spürt, hat Djaferi sein Ziel erreicht. Denn plötzlich ist „ist´ammar“ (arabisch für Kolonisation) kein Begriff mehr, es ist ein Gefühl der Verzweiflung. Und vor allem ist es greifbares Leid.

„Coulounisation“ ist so erbauend wie zerstörend und greift tief in die emotionale Schublade. Die 75 Minuten sind wie ein stürmisches Meer. Das Stück stellt Fragen: Wichtige Fragen zur eigenen Rolle in der Geschichte und zur Verantwortung die Sprache tagtäglich mit sich bringt. Ein beeindruckendes Werk, das besonders mit Blick auf die politischen Situationen der Welt relevanter denn je erscheint.

Die Texte sind Teile eines Seminars „Theater- und Tanzkritik – Selbstverständnis und Praxis“ am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig im Wintersemesters 2023/24. Die Texte sind Arbeitsergebnisse der Studierenden. Betreut wird das Seminar von tanznetz-Redakteur Dr. Torben Ibs.

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