Geisterhaus und Puppenhaus

Jiří Kyliáns „Zugvögel“ spielen mit dem Theater

München, 05/05/2009

Ist er im Alter sentimental geworden? Eigentlich weicht Jiří Kylián bei seiner Uraufführung fürs Bayerische Staatsballett nicht von seiner bekannten Ästhetik ab - wir sehen surreale Bilder und diese fließenden, hochmusikalischen Bewegungen, wie so oft beschränkt sich der tschechische Choreograf auf die Farben Schwarz und Weiß sowie die grauen Zwischentöne. Nach manch zerbröselt-intellektuellen, verrätselten oder dadaistischen Stücken der letzten paar Jahre aber stürzt sich der Choreograf, dessen Name jahrelang als Synonym fürs Nederlands Dans Theater stand, mit seinen „Zugvögeln“ zurück in ein pures, Staunen machendes Theater der Illusionen, in wilde, über die Bühne fegende Tänze. Es wirkt, als erlaube sich Kylián ein wenig Pathos zum Schluss, und das ganz bewusst, mit einem Lächeln. Angeblich sollen die „Zugvögel“ sein letztes abendfüllendes Stück sein, auf jeden Fall sind sie ein Abschiedsstück – von der Bühne, vom Tanz, vom Leben, die Bilder eröffnen uns alle Möglichkeiten. Sie enden in einem furiosen, wirbelnden finalen Walzer samt Weltenbrand und Auferstehung.

Gewidmet hat Kylián das Werk seiner Frau und langjährigen Muse Sabine Kupferberg. Eigentlich hätte sie im Zentrum der Aufführung stehen sollen, auf den vier eingespielten Filmen ist sie auch noch zu sehen, aber wegen eines Bühnenunfalls kann sie vorerst nicht auftreten. Ihre Rolle übernahm die Münchner Tänzerin Caroline Geiger, ihr steht mit Peter Jolesch ein grauhaariges Alter Ego des Choreografen zur Seite. Wie Philemon und Baucis führt uns das ältere Paar durch den Abend, gespiegelt in unzähligen jüngeren, dynamischen Paaren: der Tanzschöpfer und die darstellende Künstlerin, der Zweifler und die Zuversichtliche, die Traurige und ihr Tröster oder einfach zwei, die ohne Theater nicht leben können. In symbolträchtigen Tanz- und Filmbildern erzählt das Stück von der lebenslangen Liebe zum Theater, durch das die Tänzer als Zugvögel ziehen, von der Kunst, der Liebe und vom Tod.

Die „Zugvögel“ sind ein Gesamtkunstwerk, bei dem Kylián zahlreiche kongeniale Helfer hatte. Wie schon bei „Arcimboldo“ hat auch hier Karine Guizzo einen Parcours durch die Unterwelt des Theaters gestaltet, wo uns Raben und Tauben, Vogelgerippe und Federn, spitze Schreie und unheimliche Geräusche auf das Vogelmotiv vorbereiten. Nach Blicken in düstere Betonkammern und hinter dicke Rohre, auf Gittertreppen und eine weite, surreal beleuchtete Hydraulikmaschinenlandschaft geht es über steile Treppen hinauf und man steht mitten auf der weiten Bühne des Nationaltheaters, wo projizierte Möwenschwärme über die Ränge fliegen. Den Bühnenraum hat Michael Simon mit endlos langen, schwarzen und später auch weißen Flatterstreifen umgeben, aus denen die Tänzer mit tollem Effekt hervorschießen. Riesige schwarze und weiße Tücher werden über die Bühne gebreitet und entflattern wieder, Ballonseide bläht sich in der atmosphärischen Beleuchtung zu mächtigen, rettenden Flügeln, immer wieder scheint ein Wind zu wehen. Heliumgefüllte, große Quader türmen sich über den Köpfen zweier Tänzer und schweben wie ein Mobile in ihrem Tanz mit, bei all seiner Düsternis wirkt das viele schwarze Tuch so schwerelos und irreal. Dirk Haubrichs Musik hetzt zunächst in wilden Rhythmen los, lässt später zarte Jahrmarktsglöckchen klingen und Vögel wie im tiefsten Dschungel schreien.

Immer wieder hallen gemurmelte Zahlen durch den Raum – die Zahl Pi symbolisiert die Unendlichkeit, das nicht zu lösende Geheimnis. Auf uns ergießt sich eine Bilderflut – Tänzer mit Licht auf der Stirn wie im Bergwerk, starre Tänzer wie Puppen auf Laufbändern, die Ballerina als antreibende Domina auf zwei kriechenden Männern. Wie Bilder der Erinnerung leiten uns zwei Metaphern durch den Abend: die Symbolik des Fliegens und Immer-weiter-Ziehens sowie die Ikonografie des Theaters mit seiner ewigen Doppeldeutigkeit zwischen Wahrheit und Fiktion. Fast immer treten die Tänzer in Paaren auf, der Urzelle des Balletts; vor allem in den Ensembleszenen breitet sich der Tanz in weiten Sprüngen und rasenden Drehungen aus, ist schnell, rhythmisch und athletisch. Das hat nicht mehr das Abgezirkelte, Verharrende, nachdenklich Tröpfelnde von Kyliáns letzten Choreografien, stattdessen gibt er sich vollkommen dem Tanz hin – ein wenig sentimental vielleicht, aber auch versöhnlich.

Noch viel raffinierter als der Tanz zeigen die vier Filme, gedreht vom Choreografen und Boris Paval Conen, surrealistische Bilder im Stil von Cocteau, Magritte oder Poe. In antikisierendem Schwarzweiß erzählen sie von einem kleinen Mädchen, das am Meeresstrand ein Theater im Sand findet, das Modell des Münchner Nationaltheaters. Vor dem Erwachsenwerden flüchtet es dort hinein, verfolgt von der Frau, die es einmal sein wird, von Sabine Kupferberg. Hände werden zu riesenhaften Taubenflügeln, das Kind ist hinter Spiegeln eingesperrt, in denen die Frau sich altern sieht, Sanddünen wehen ins menschenleere Foyer und auf die Freitreppe, eine Verfolgungsjagd durch den Kostümfundus mutiert zum Slapstickfilm. Als die Frau hinaus ins Dunkel flüchtet, ziehen weiße Vögel über den Nachthimmel. Das Theater wird zum Geister- oder Puppenhaus, zum verwunschenen Schloss wie aus alten Filmen, zur Spieldose und zum Sarg. Und geht schließlich, nach einem furiosen Walzertaumel der gesamten Kompanie zu Ravels „La Valse“, in Flammen auf – erst das Modell auf der Bühne, aus dem blutrote Federn fliegen, dann steht der ganze Saal in Flammen aus Licht, minutenlang züngeln sie glühend rot an den Rängen empor, ein Weltenbrand von wunderlich stiller Schönheit: So stirbt man im Theater. Dann steigen auf dem schwarzen Vorhang geflügelte, nackte Tänzer aus der Asche und schweben nach oben, die schönsten aller Vögel: Phönixe aus der Asche, die als Zugvögel immer neu und immer weiter fliegen.

www.bayerisches-staatsballett.de

Kommentare

Noch keine Beiträge