Eine „Divina commedia" der anderen Art

Zur Eröffnung der Ballettfestwoche 2009 choreografiert Jiří Kylián die Uraufführung "Zugvögel"

oe
München, 03/05/2009

In der Spätphase seines ereignisreichen Tänzerlebens resümiert Jiří Kylián, Europas schöpferischster Choreograf, seine Erfahrungen: Tanzen ist schön, nur Fliegen ist noch schöner! Und so verwandelt er die Tänzer des Bayerischen Staatsballetts zur Feier ihres zwanzigjährigen Jubiläums in Vögel, um sie am Ende als Engel ins Paradies fliegen zu lassen – frei und in Umkehr zu Dantes Motto: „Lasst alle Erdenschwere hinter euch, fliegt himmelwärts!“ Denn ihre Existenz als Vögel ist nur ein Zwischenstadium ihrer himmlischen Metamorphose.

Es ist ungeheuerlich, was Kylián an Lebenserfahrungen in die pausenlose Produktion dieser „Zugvögel“ eingebracht hat. Sie reicht von den Flugapparaten Leonardo da Vincis über die Sylphiden-Fräuleins der Romantik, Petipas „Blaue Vögel“, Fokines „Sterbenden Schwan“ und „Feuervogel“ via Ruth Berghausens Ostberliner „Zugvögel“ aus den fünfziger Jahren (die ihre Südflugroute ändern mussten, um nicht über das atomverseuchte Westeuropa hinweg fliegen zu müssen) und Neumeiers einsamer Tschechow-Möwe bis in die unmittelbare Gegenwart, da er den Zuschauerraum des Nationaltheaters einkreisen lässt von ganzen Heerscharen von Möwen, bei denen man den Eindruck hat, dass sie Hitchcock-gleich, zur Attacke auf das Premierenpublikum ansetzen könnten.

Und so gleicht an diesem Abend, da Kylián und sein fabelhaftes Team Auditorium und Bühne des Nationaltheaters in eine Arche verwandelt haben, in die sich die Tänzer-Vögel vor der Weltkatastrophe gerettet haben, die nichts und niemanden verschont, auch das als Modell aufgebaute Nationaltheater nicht (wie der Tempel von Paestum trotzt es den Überschwemmungsattacken des Meeres, um am Schluss in einem Feuersturm zu explodieren). Doch, wie gesagt, Rettung naht, und die Engel entschweben in den Kosmos.

Wohl nur in einem Hirn, das im Schatten des Hradschin sein Kafka-Erbe kultiviert, konnte eine so ungeheuerliche tänzerische Metamorphose Gestalt annehmen! Auf die Kylián sein großes Team von Mitarbeitern eingeschworen hat – und besonders die superben Tänzer des Bayerischen Staatsballetts, die durch diesen Anderthalb-Stunden-Parcours segeln, auf der Volière der Bühne, im Film, im Probensaal und in den Katakomben, angetrieben von einem ungeheuerlichen, stetig eskalierenden Elan, motiviert von einer Erinnerungsleidenschaft, die von Carolin Geiger und Peter Jolesch als Philemon und Baucis angetrieben wird, in die Jugend ihrer Existenz zurückreicht, verklärt von Sabine Kupferberg und Richelle Plantinga, um am Schluss in die dämonische Apokalypse von Ravels „La Valse“ einzumünden – wie man den Walzer in diesem Hause seit den Tagen von Clemens Krauss und Carlos Kleiber nicht mehr gehört hat. Wahrlich ein Red-Letter-Day in der noch jungen Geschichte des Bayerischen Staatsballetts, wie es von Konstanze Vernon visioniert wurde und von Ivan Liška auf einen Höhepunkt geführt wurde, auf dem sich die Kompanie zu einem Spitzenensemble der europäischen Gemeinschaft etabliert hat!

 

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