Geheimakte Ballettwunder Stuttgart

Operativ-Vorgang „Provokation“: John Cranko geriet 1971 in das Visier der Staatssicherheit der DDR

Das Ballett war ein glänzender Exportartikel der DDR. Welche Rolle spielte dabei die Staatssicherheit? Ralf Stabel, Leiter der Staatlichen Ballettschule Berlin, hat nachgeforscht - und ist auch auf den Namen des einstigen Stuttgarter Ballettchefs John Cranko gestoßen.

Berlin, 14/09/2009

Erst nach einem halben Jahr wird der Fall zu den Akten gelegt. „Provokation“ nennt sich der Operativ-Vorgang XV 1608/71, innerhalb dessen sich nach einem Beschluss vom 10. Juni 1971 eine mehrköpfige Arbeitsgruppe der Abteilung XX mit der „Möglichkeit einer lang vorbereiteten feindlichen Provokation“ befasst. Als deren Initiator gilt - John Cranko. Seit einem DDR-Gastspiel vier Jahre zuvor werden dem damaligen Stuttgarter Ballettchef enge Kontakte mit einzelnen Tänzern nachgesagt. Dass er 1969 „Jeu de cartes“ dem Tanztheater der Komischen Oper in Ostberlin überlässt, macht ihn in den Augen der Stasi noch mehr verdächtig. Als nach einem Helsinki-Gastspiel der Komischen Oper acht Ensemblemitglieder in der Bundesrepublik um Asyl nachsuchen, ist zwar eigentlich das eigene Kontrollsystem blamiert.

Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, wird zunächst aber erst einmal der Grund in einer „langfristigen ideologisch vorbereiten Abwerbung von westdeutscher Seite“ vermutet. „Alle republikflüchtigen Personen wurden unmittelbar nach ihrem Aufnahmeverfahren in Westdeutschland von verschiedenen Tanztheaterensembles unter Vertrag genommen.“ Das stimmt so nicht ganz, denn eine Tänzerin, die in der DDR ein Kind zurückgelassen hat, kann relativ bald, wie es handschriftlich in einer „Parteiinformation“ vom 5. Juli heißt, „zur Rückkehr in die DDR bewegt werden“. Damit das gelingt, wird nicht nur ihr Lebensgefährte als IM „Sumatic“ auf sie angesetzt, sondern auch eine enge Freundin. Wie sich nach einer Vernehmung herausstellt, hat sie aus dem Auffanglager niemand vom Stuttgarter Ballett erreichen können, das sich zu diesem Zeitpunkt gerade auf einer Tournee befindet.

Die „Massenflucht von Tänzern der Komischen Oper“ kann also gar nicht „von dem Stuttgarter Choreographen Crankow organisiert“ worden sein, wie der sonst so „zuverlässige“ IM „Martin“ mutmaßt. „Dieser hat dadurch, insbesondere durch die Flucht des Schneider erreicht, dass die Komische Oper Berlin in den nächsten Jahren auf dem Gebiet der Tanzkunst keine Konkurrenz für ihn darstellt. Damit wäre er im deutschsprachigen Raum Europas auf dem Gebiet des modernen Tanzes führend.“

Eine absurde Vorstellung: dass sich das Stuttgarter Ballettwunder nicht zuletzt aufgrund einer politischen Intrige Crankos gründen könnte. Wenn Ensemblemitglieder der Komischen Oper wie der erwähnte Jürgen Schneider in Stuttgart oder München Unterschlupf finden, dann deshalb, weil John Cranko ihnen seine Hilfe nicht versagt: eine Vermutung, die sich auch aus dem Vernehmungsprotokoll eines Tänzers herauslesen lässt, dessen Fluchtpläne im Vorhinein bekanntgeworden sind. „Insbesondere der Ballettdirektor der Staatstheater Württemberg … hatte mir im Jahre 1967 gesagt, als er mit seinem Ensemble zu den Berliner Festtagen in der Hauptstadt der DDR war, dass ich zu ihm nach Stuttgart kommen soll, wenn ich mal rüberkomme. Ich fasste diese Worte so auf, dass ich bei ihm in Stuttgart arbeiten könnte, wenn ich die DDR illegal verlassen hätte.“

Obwohl die Tatsachen dagegen sprechen, klammert sich das Ministerium für Staatssicherheit im Abschlussbericht in Ermangelung eines anderen an sein einmal gewähltes Feindbild: „Die Tatsache, daß Crankow einen großen Zuspruch guter internationaler Tänzer westeuropäischer Länder hat und andererseits den republikflüchtigen Personen Schneider … (Anmerkung: und anderen, deren Namen in der „Einschätzung der Hintergründe“ geschwärzt erscheinen) ein Engagement in seinem Ensemble … verschafft hat, führt zu dem Schluss, daß Cranko sowie seine Assistentin (Anmerkung: Name geschwärzt) direkten Anteil an der Abwerbung von Tänzern aus der DDR haben.“

Den Verdacht, die acht Ensemblemitglieder der Komischen Oper hätten „gemeinschaftlich ihr ungesetzliches Verlassen vorbereitet und durchgeführt“, lässt man am 1. Dezember 1971 dagegen fallen. Ende gut, alles gut? Das wohl nicht. Trotz Anfangsverdacht wird Cranko nicht observiert, obwohl die Stasi auch bei ihm nach Möglichkeiten einer Erpressbarkeit sucht und sich bei den Stuttgarter Justizbehörden für alle Fälle die Fotokopie eines Gerichtsurteils beschafft. Zwei DDR-Tänzer, deren Fluchtpläne vereitelt werden konnten, kommen ins Gefängnis. Ihre Kollegin aber, wie auch immer zur Rückkehr „bewegt“ und an der Staatsoper als Tänzerin eingesetzt, bleibt auf der Strecke und scheidet - wie Ralf Stabel in seinem ebenso dramatischen wie deprimierenden Buch „IM Tänzer“ in aller Ausführlichkeit beschreibt - „alles andere als freiwillig“ aus dem Leben.

Der derzeitige Leiter der Staatlichen Ballettschule Berlin hat in Sachen Stasi gründlich recherchiert und nicht nur anhand der Aktenlage den Operativ-Vorgang „Provokation“ minutiös aufgearbeitet. Auch die Vorgänge an seiner eigenen Schule und an der Paluccas in Dresden hat er gründlich durchleuchtet, um so die Machenschaften der Machthaber ebenso sichtbar zu machen wie das System ihrer Kontrolle.

Für die Komische Oper sind die Folgen absehbar. „Einige IM sind seitdem … installiert, andere werden als solche geführt. Weitere werden hinzukommen“, schreibt Stabel in seinem Buch. „Man hat aus den Vorgängen in Helsinki 1971 gelernt. Nun soll nichts mehr dem Zufall überlassen werden. Die erhöhte Wachsamkeit zahlt sich für das Ministerium für Staatssicherheit - wie im Fall des Ballettensembles der Deutschen Staatsoper zu sehen war - umgehend aus.“ Einen weiteren Aderlass kann die Stasi allerdings nicht verhindern: am 21. Mai 1972 setzt sich bei einem Paris-Gastspiel mit Claus Schulz der prominenteste Ballettstar und damalige Ballettdirektor der Berliner Lindenoper in den Westen ab - und das gewiss ohne das Dazutun von John Cranko.

Ralf Stabel: IM „Tänzer“ und die Staatssicherheit. Schott Verlag, Mainz. 231 S., 24,95 Euro.

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