Broken Dreams – Broken Songs

Deutschlandpremiere von Keersmaekers „The Song“ mit Rosas bei Tanz im August

Berlin, 30/08/2009

Ein langer Abend, der in vielen Details im Gedächtnis bleibt. Was Anne Teresa de Keersmaeker gemeinsam mit ihren Bühnenbildnern Ann Veronica Janssens und Michael Francois für diese mehrfach ungewöhnliche Performance erdacht und gemeinsam mit einem formidablen Männernonett sowie der Geräuschkünstlerin Cécile Bernard erarbeitet hat, thematisiert völlig unterschwellig jenes beabsichtigte Nachspüren des Menschen (Mannes) „im Chaos der ihn umgebenden Kräfte“. Uraufgeführt im Juni 2009 in Paris, entfacht dieses „Laboratorium aus Bewegung und Klang“ bei seiner deutschen Erstaufführung als gelungener Abschluss des diesjährigen Berliner Festivals sicher viele anregende Diskussionen.

Wie Bühnenarbeiter kommen neun Kerle in Jeans und Hemd auf die Szene und beginnen auf dem hellen Bodentuch im Kreis zu rennen, erst gemeinsam, dann wechselt die Führung unmerklich und der Schwarm kreist um immer neue Zentren. Das Tempo zieht an, extreme Beschleunigung kippt in Phasen des plötzlichen Erstarrens. Es entstehen immer neue beredte Arrangements der Ruhe, in denen der Einzelne seinen Platz finden, behaupten, neu suchen muss. Verdichtung entsteht in den nachfolgenden vierzig Minuten durch eine so noch nie gesehene Reihe von getanzten Männerpsychogrammen. Soli, Duette und Trios werden ‚begleitet‘ (oder auch initiiert) von live erzeugten und verstärkten rhythmischen Geräuschen aus schlagenden Schuhen, quietschendem Wasser, raschelndem Reis, knisterndem Papier. Zu erleben sind intime Momente menschlichen Seins zwischen Niedergeschlagenheit, Suche, Aufbruch. Ein barfüßiger Mann gibt der Geräuschkünstlerin seinen silbernen Turnschuh und beide explodieren, einander rhythmisch folgend, in einem schnellen Duett, bei dem er an die Brandmauer springt, dort hängen bleibt, um nach einem Blick in den Zuschauerraum doch weiter zu machen. Ein anderer krümmt sich am Boden zu den nervigen Lauten von Cécile Bernards Händen im Bodenwasser, mit denen sie seine Bewegungen qualvoll zu verschrauben trachtet (oder umgekehrt). Ein Mann im gelben T-Shirt wird durch seine Bewegungsfolge auf quietschenden Schuhsohlen zu einem traurigen Vogel. Alle schauen ihn an, wenn er seine Gaga-Rede ans Publikum hält und plötzlich mit beleuchtetem Gesicht ein Lied singt, das aus den Tiefen seiner Seele zu kommen scheint und es nicht lange in der Welt aushält.

Ein rotierendes Seil erzeugt ein Wind-Crescendo des zweiten Teils. Wieder schwärmen die Männer im wabernden Pulk, beobachten einander bei den gewagten verkanteten und verzögerten Arabesken, Körperrollen, drehenden Sprungfolgen, oft in perfektem Gleichklang der Körper. Kaum wahrnehmbar sind die Umrisse der mit dem Rücken zum Publikum im Pulk stehenden Männer, deren Stimmen aus dem pianissimo gemeinsam den „Blackbird“-Song summen und den Gesang vom „to be free“ mit imitiertem Vogelgezwitscher begleiten. Doch im hellen Licht kontrastiert ein Blondschopf jenes „to be free“ durch gepresstes Pfeifen nach innen. Ein anderer singt zur Gitarre von „broken dreams“. Er bricht den Song ab, hockt auf dem Boden mit Blick ins Publikum. Das nachfolgende Solo eines wie gelähmt erscheinenden Mannes mit ungelenken Gliedmaßen, der beständig zum ‚aufrechten‘ Gang strebt, gehört zu den berührendsten. Genau im Moment, da ihm endlich die selbstbewusste Pose gelingt und er mit ausgebreiteten Armen die anderen zur Ermutigung drängt, stürzt er wieder auf den Boden. Schwünge der Aktivität, die aufbrechen und verebben. Ein Bärtiger, dessen grell beleuchtetes Gesicht anfangs für Sekunden eine stumme Rede wie ein Volkstribun zum Zuschauer gehalten hat, wird kurz vor Schluss scheu seine rechte Hand zur geballten Faust formen. Wenn die Plafond-Silberfolie ganz langsam wie ein glimmender Vorhang knisternd in sich zusammengefallen ist (hier könnte eigentlich Schuss sein, was viele Zuschauer mit Beifall quittierten), dröhnt (für mich völlig unverständlich) extrem verstärkte Musik. Die Akteure knüpfen die Folie neu ein, trinken aus ihren Wasserflaschen, bilden einen neuen Schwarm aus unverändertem Bewegungsmaterial.

Mit hundert Minuten Dauer ist der pausenlose Abend, auch dank der dramaturgischen Mitarbeit von Claire Diez und Eugénie de Mey, ohne große Spannungsamplituden dennoch spannungsvoll, könnte aber bei der Fülle des choreografischen Materials gerade in der Endphase ohne Abstriche gekürzt werden. „The Song“ ist eine Bewegungsperformance über verlorene Sehnsüchte, voller Melancholie aus der Perspektive von Männern. Verletzlich, kraftvoll, sich abarbeitend in energetischen Feldern, die im Zuschauer nachklingen und weiterleben. Genauso wie die wundersam wandernde Lichtbahn eine finale Brücke schlägt von der verlöschenden Bühne durch die Ränge in den Zuschauerraum.
Begeisterter Beifall im HAU 1 nach der zweiten Aufführung für Pieter Ampe, Bostjan Antoncic, Carlos Garbin, Matej Kejzar, Mark Lorimer, Mikael Marklund, Simon Mayer, Michael Pomero, Sandy Williams und das ganze Team von Rosas.

www.tanzimaugust.de

www.rosas.be

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern