Angstschreie geschundener Körper

Alain Platels „Pitié“ seziert im Hebbel am Ufer unsere Welt

Berlin, 05/06/2009

Sein Mitgefühl für die Menschheit habe zugenommen, seit er mit Menschen an Produktionen zusammenarbeite. Das tut Alain Platel seit über zwei Jahrzehnten und hat sich durch ungezählte Stücke den Ruf als einer der radikalen Theatermacher Europas erworben. In „Pitié!“ macht der Belgier das Erbarmen zum Hauptthema und versichert sich dabei der Mitarbeit Bachs. Freilich klingt dessen „Matthäus-Passion“ nicht in der Urgestalt, sondern in einer stark bearbeiteten, uminstrumentierten Version, wie sie der Saxophonist Fabrice Cassol den Werkbelangen angepasst hat.

Zwei Stunden im Block breitet Platel ungemein assoziativ seine Visionen zur Heilsgeschichte aus. Es ist schwer, das Stück zu mögen, ebenso schwer ist es jedoch, sich seiner Suggestion zu verweigern. Alles zieht Platel, ganz Kind seiner europäischen Gegenwart, in Zweifel, und dennoch verbreitet er nach geradezu quälenden Passagen von Chaos, Wirrnis, Orientierungslosigkeit Zuversicht. Auch aus dem geschickten Timing zwischen Raserei und Sammlung bezieht „Pitié!“ letztlich seine Spannung. Für den Exzess einer Religion im Zerfall hat Peter De Blieck eine Bühne aus hellem Holz gebaut: rechts das Podest für die Musiker, das eine Treppe mit dem Verkündigungsturm verbindet. Davor bleibt für die zehn fabulösen Darsteller von Les Ballets C de la B Raum, den nur ein Tisch auf Ziegelsteinen eingrenzt. Daran sitzen reglos die drei Sänger, die sich der Mutter Gottes, Jesus und, laut Programmheft, einer Schwester zuordnen werden. Hat Platel bei früheren Stücken Bach noch im Original verwendet, so tauchen hier lediglich für die Aussage relevante Teile auf, durch Einsatz etwa von Saxophon, E-Bass, Schlagzeug, Akkordeon bisweilen reizvoll verfremdet.

Unsichtbar unter der Treppe ist ein Mikrofon, in das die Tänzer ständig Textfetzen stammeln: traurige und trotzige letzte Worte zum Tode Verurteilter aus einem Sachbuch, die sich jedoch auch als vergeblicher Versuch des Menschen deuten lassen, im Beichtstuhl seine Fehler zu benennen. Mehrfach nutzt Platel eine riesige Folie in Blau, das die christliche Ikonografie Maria zuordnet. Mehrfach auch nimmt er Bibel-Zitate wörtlich. Zu „Fleisch von meinem Fleisch“ krallen die Akteure gegenseitig die Hände gierig in die Haut, verknoten ihre Körper, winden sich in sexuellen Eskapaden, lassen nackt vorgebeugte Rücken kopflos scheinen. Bachs Choral vom „Haupt voll Blut und Wunden“ setzt er in Staffelbilder um. Jesus, hier ein vorzüglicher Countertenor aus Zaire, dessen T-Shirt ein verzückter Heiland ziert, landet demonstrativ in Pietà-Haltung auf dem Schoß der Mutter; von Hungrigen wird er, nicht erst in Brot verwandelt, angeknabbert. Ein Erhängter mag das Schicksal des Judas meinen.

Was platte Analogie scheint, ist im Platelschen Kosmos jedoch eher zynisches Spiel mit Sinnverlust. Seiner Herkunft von der Heilpädagogik dürften die vielen Figuren aus den Fugen und der Form Geratener, dem Wahn Verfallener geschuldet sein, die ihre geschundenen Leiber hilflos renken, bis auf die Intimwäsche entblößen, ruhelos zueinander drängen. Metapher der Bedrohung ist auch eine Axt. Es ist die spürbare Angst um diese Welt, die über Platels „Pitié!“ schwebt und den Zuschauer nachdenklich entlässt. Ein wenig Hoffnung bleibt am Ende: Zündhölzer glimmen im Dunkel auf, in dem Bachs Harmonieklänge, vorher geborsten, zerhackt, weltumspannend in arabisch wiegenden Klang gesetzt, das letzte Wort haben.

Nochmals 5.+6.6., 19.30 Uhr, Hebbel am Ufer 1

www.hebbel-am-ufer.de

www.lesballetscdela.be

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