Platel goes Butoh

Deutsche Erstaufführung: „C(h)oeurs" bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen

Ludwigsburg, 10/06/2012

Konsterniert waren unter den Zuschauern nur jene, die Ballett erwartet hatten, zu Recht, schließlich nennt sich das belgische Tanzensemble les ballets C de la B, wobei C für contemporain, B für Belgien und ballets im Plural steht. Das Publikum der Ludwigsburger Schlossfestspiele war angetan von der großartigen Gesamtleistung der zehn tanzenden Zeitgenossen unter Leitung des Choreografen und Regisseurs Alain Platel, sowie von Chor und Orchester des Teatro Real Madrid, feiert „C(h)oeurs" (Chöre / Herzen) im ausverkauften Forum der Barockstadt.

Nichts ist von der skandalträchtigen Sprengkraft zu spüren, die sich bei der Uraufführung in Spanien angekündigt hatte. Auch keine Provokateure, die ihrem Ärger in lautstarkem Appell Luft machen, sind bei der Deutschen Erstaufführung zu hören. Statt „You are paid to sing! Sing!“-Rufen gibt es große Emotionen zum Abheben auf den Flügeln von Giuseppe Verdi und Richard Wagner (aufgepasst: beide Jahrgang 1813 feiern im kommenden Jahr ihren 200. Geburtstag), sowie bildstarke Szenen.

Prima la musica e poi les paroles (erst die Musik, dann die Worte), in dieser Reihenfolge stellt Platel seine persönliche Hitliste zusammen. Er schneidert aus Fragmenten der „Messa da Requiem“, „Nabuccos Gefangenenchor“, „Tannhäusers Pilgerchor“, verschiedenen Opern-Arien und -Vorspielen ein Ganzes. Verbunden durch Soundscapes von Steven Prengels (Geräusche wie Straßenverkehr, La-Ola-Begeisterung, Massenaufläufe) und angereichert mit Zitaten der französischen Autorin Marguerite Duras (1914-1996), in denen erste und letzte Fragen, Marx und Freud sowie Demokratieverständnis in Anbetracht fortschreitenden Weltverlustes behandelt werden, entsteht daraus ein gewaltiger Spannungsbogen. Platel berichtet beim Vorgespräch, dass die Tänzer davon wie erschlagen gewesen seien.

Ohnmächtig torkeln sie mit eingedrehten Beinen, verrenkten Gliedern und Knebeln im Mund über eine Treppe: Schamhafte Zombies, ihrer Sprachlosigkeit bewusst, bedienen sie sich aus dem tanzhistorischen Fundus. Butoh und Tanztheater stehen Pate. Ein Kopfloser, aus dessen Schultern Finger zu wachsen scheinen, streift sich das Büßergewand vom Leib. Ein bewegter und bewegender Auftakt. Analog zu den japanischen Avantgardisten Hijikata und Ohno beispielsweise in Stücken der 50er und 60er Jahre, wie „Kinjiki“, (deutsch: „Verbotene Farben“ von 1959) oder in „Rose-coloured dance“ (1963), die nach dem Schock von Hiroshima einen neuen Körperausdruck suchten, um nach einem Jahrzehnt der Recherche Butoh zu (er)finden, entledigen sich Platels Protagonisten ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit. Ihre Knebel sind Slips. Vor Angst und Kälte zitternd ziehen sie diese in butohesker Langsamkeit an.

Zum akustisch verstärkten Herzklopfen wird am Ende aus der wunderbaren Isolation der Tänzer herzliches Einvernehmen mit den Choristen. Angezettelt hat das deutsch-italienische Komplott der in Sachen Musik und Festival als Globalplayer bekannte Gerard Mortier. Alles in belgischer Hand, ist unter Platels Regie daraus eine „Entente cordiale“ mit Japan geworden. Ärgerlich ist der Fakt, dass diese Musik- und Tanztheaterproduktion soviel Geld verschlungen hat, dass kein Geld für weitere Tanzproduktionen blieb.

Prima la musica! Im Jubeljahr feiern die Ludwigsburger Schlossfestspiele ihren 80. Geburtstag fast ausschließlich mit Musik. Dulden Musiktheater-Titanen keine Tanz-Götter neben sich? Ist das Ganze ein gewitzter Coup, der als gelungenes Marketing für Verdi und Wagner im kommenden Jahr gewertet werden kann? Waren es etwa bezahlte Claqueure und Provokateure, die bei der Uraufführung in Madrid einen Skandal vom Zaun brechen sollten, in Erinnerung an den Theaterskandal, der 1913 durch Nijinskys „Sacre du printemps“ ausgelöst worden war? Wessen Herz für den Tanz schlägt, bleibt unterversorgt. Halten wir‘s nun mit dem 95-jährigen Widerstandskämpfer Stéphane Hessel, der appelliert „Empört euch!“, aber leider seine Eröffnungsrede in Ludwigsburg schuldig blieb, oder halten wir uns an Samuel Beckett, dessen Bonmot, wie immer es gemeint ist, den Nagel auf den Kopf trifft: „Räsonnieren wir ohne Furcht, der Nebel wird sich halten“?

 

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