Platel goes Butoh
Deutsche Erstaufführung: „C(h)oeurs" bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen
„C(h)oeurs“: Alain Platel im Gespräch mit Intendant Thomas Wördehoff anlässlich der Ludwigsburger Schlossfestspiele
Wer sonnt sich nicht gern im Glanz der Barockstadt? Ob das Lustschlösschen Monrepos für die TV-Talkrunde des Schwaben Wieland Backes oder das Palais der Maitresse Grävenitz für Konferenzen und Seminare den pompösen Rahmen liefert, Ludwigsburg punktet mit der feudalherrlichen Vergangenheit, nicht zuletzt profitiert davon auch das Image der Ludwigsburger Schlossfestspiele. Umso erstaunlicher, dass Festspiel-Intendant Thomas Wördehoff nicht ins repräsentative Barock, sondern ins moderne Zentrum zum Café-Talk lädt, wo er gemeinsam mit dem belgischen Regisseur die Deutsche Erstaufführung der Musik- und Tanztheaterproduktion „C(h)oeurs" vorstellt.Nähe ergibt sich in der knuffig kleinen Café-Bar Midori von selbst: Thomas Wördehoff und Alain Platel schieben sich durch die Menge, nehmen am erhöhten Bistrotisch in der hinteren Ecke Platz. Ein „Pling“ am Glas und das bienenstockartige Summen verstummt. Der Intendant stellt seinen Gast als „Regisseur, Choreograf und poetischen Menschen“ vor, er erläutert den Stücktitel „C(h)oeurs", der ins Deutsche übersetzt „Chöre und Herzen“ bedeute und fragt, was den Anstoß zu Stück und Titel gegeben habe.
„Am Anfang stand Gerard Mortiers Frage ob ich an einem Verdi-Projekt interessiert sei“, sagt Platel. Er gibt zu, dass er kein Verdi-Fan ist, aber die Aussicht mit einem der besten Theater der Welt, wie dem Teatro Real Madrid zu kooperieren, sei zu verlockend gewesen. Eine Verdi-Oper will er nicht inszenieren, jedoch kann er den Chören etwas abgewinnen: „Sie sind Teil unseres genetischen Materials“, sagt Platel lächelnd und vermeidet, politisch korrekt, Begriffe wie „Volksseele“ oder „kulturelles Gedächtnis“. Man denke nur an das „Va, pensiero, sull'ali dorate“ (Flieg Gedanke, getragen von Sehnsucht) des Gefangenenchors, der in jeder Sprache bekannt ist. Mühevoll sei es gewesen Mortier zu überzeugen, dass nicht Solisten, sondern der Chor der Protagonist sein wird.
Aus einer Sammlung von 50 Chören und Arien, die Platel gemeinsam mit dem Musikdramaturgen Jan Vandenhouwe aussucht, verbleiben knapp zwei Dutzend. Mit diesem musikalischen Gerüst geht es ins Tanzstudio der Ballets C de la B in Gent. Erste Bewegungsstudien seien artifizieller und ästhetischer gewesen, als die Version, die nun auf der Bühne zu sehen ist, so der Choreograf. Aktuelle politische Entwicklungen, wie der arabische Frühling und die Occupy-Bewegung, tragen zur Veränderungen des Konzepts bei. Mortier sieht Zusammenhänge mit der Zeit Verdis- und der Epoche Wagners, weshalb er den deutschen Komponisten miteinbezieht, was das Unterfangen, laut Platel, noch schwieriger macht.
Eine weitere Hürde ist die knappe Probenzeit von nur neun Tagen mit dem Uraufführungs-Chor in Madrid. Zu riskant, befindet Platel und castet in Gent einen Stellvertreter-Chor. Er gibt eine Annonce auf und erwartet 20 bis 30 Freiwillige. Zu seiner Überraschung melden sich 130 Chorsänger. Selbst als klar wird, dass sie für vier Monate Probenzeit (mit der Verpflichtung einmal wöchentlich anwesend zu sein) weder Geld erhalten, noch in den Genuss kommen, auf der Bühne zu stehen, ziehen sich nur 20 zurück. Dieser Ersatz-Chor sei für den Arbeitsprozess ungeheuer wichtig gewesen, da zwei Probleme im Vorfeld angegangen werden konnten: Wie bringe ich Laien Bewegungen bei? Wie arbeitet man mit einer großen Gruppe? „Ich bin gewohnt, auf jeden Tänzer einzeln einzugehen und entwickle Stücke im intensiven Dialog“, erklärt Platel, von dem eine neue Arbeitsökonomie und ein neues Rollenverständnis als Führungspersönlichkeit gefordert ist. Es sei spannend gewesen, den eigenen Skeptizismus als auch die Widerstände der 72 Chormitglieder zu reflektieren. Gewohnt als anonymes Kollektiv zu funktionieren, widerstrebt es den einzelnen Mitgliedern aus der amorphen Masse heraus, in Kleingruppen, gar als Einzelne zu agieren. Die Szene, bei der Chorsänger solistisch an die Rampe treten, um sich über Mikrophon namentlich vorzustellen (bekannt aus Stücken von Pina Bausch), habe Teile des Publikums in Rage versetzt: „You are paid to sing! Sing!“ wurde gerufen.
Angereichert von derlei Anekdoten fließt das kurzweilige Gesprächs-Ping-Pong im entspannten Plauderton. Platel versteht deutsch, antwortet englisch und offenbart Geheimwaffen, mit denen er es geschafft hat „dass die Sänger weit über ihren Schatten springen“. Wördehoff übersetzt, paraphrasiert, kommentiert und erzählt von Kritikern, diesen knallharten Kerlen, die nur eins kennen, Daumen hoch, Daumen runter. Wenn dann eine der spitzen Federn aus der Generalprobe kommt, mit Tränen in den Augen, schlägt das Intendanten-Herz sichtlich höher. Ein Stück, das polarisiert und bis zur Ergriffenheit emotionalisiert − was will man mehr? Wenn Menschen wacher und aufmerksamer aus der Vorstellung gehen, dann hat Platel sein Ziel erreicht. „Was ist die Botschaft?“, fragt noch jemand. Mit einer Botschaft wolle man das Publikum nicht behelligen. Wördehoff ergänzt: „Der Abend ist nicht links oder rechts, er ist auch nicht vegetarisch. Es surrt in einem, wie in einem Bienenhaus voller Fragen. Fragen, die kein künstliches Rätsel sind, sondern in unser Herz gepflanzt, voller Ergriffenheit vibrieren“.
Auch wenn es eine Lust ist, sich von der Eloquenz des Festspiel-Intendanten einwickeln zu lassen, lässt das Ludwigsburger Publikum nicht locker: Wenn es kein Libretto gibt, gibt es ansatzweise eine Geschichte? Nicht im engeren Sinn, man vermisse sie auch nicht, so Wördehoff. Platel sieht eine Linie, die sich vom public body (dem öffentlichen Körper) durch den private body (privaten Körper) ziehe. Wördehoff spricht vom öffentlichen Menschen, der sich immer mehr individualisiere und letztendlich entblößt vor der ganzen Welt steht.
Was gesprächsweise in der kleinen, feinen Café-Bar knapp eine Stunde geboten wurde, war ganz großes Kino. Riesenapplaus. „Das war toll heute!“ gibt Wördehoff das Kompliment zurück. „Super!“ fliegt ihm aus dem Publikum entgegen. Schade nur, dass niemand vom Ludwigsburger Filmnachwuchs zugegen war, denn eine heimliche Botschaft gab es beim Café-Talk, aber das ist eine andere Geschichte.
www.schlossfestspiele.de
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