Absent while present

Micha Puruckers Auseinandersetzung mit Giacometti in „echoes - 18 gestures in space“

München, 15/12/2009

Hinter dem schweren Vorhang am Publikumseingang steht Micha Purucker selbst. Mit einer Taschenlampe, um die Zuschauer daran zu hindern, über die Stufe zu fallen. Dann wird der Zuschauer sorgsam unter einem Filzdach abgestellt und allein gelassen. In einer Art Holzgatter. „Raumkapsel“ heißt der schmale Streifen offiziell, in dem maximal 20 Leute hinter einer Absperrung stehen können. Die anderen müssen draußen warten. Aber das Publikum wechselt schnell durch. Ruhig stehen kann nämlich kaum einer lange. Die Unterbringung des Publikums bestimmt die Wahrnehmung der Kunst und ist daher nicht unwesentlich. Unbequem ist es also, das Giacometti-Projekt von Micha Purucker. Oder positiv formuliert: Konsumhaltung kommt hier nicht so schnell auf.

Bei Purucker dominiert nämlich das Abstrakte. Ein schwarzer Raum, leer bis auf die transparenten Stoffe an den Seiten. Darauf: Foto- und Filmprojektionen. Die Musik: elektronisch bis geräuschdominiert. Alles flirrt und überlagert sich. „Unschärfen“ nennt Purucker das, analog zum plastischen Gestaltungsprinzip Giacomettis. Auch tänzerisch hat er versucht, das umzusetzen. Konzeptuell spannend. Die beiden Tänzer bewegen sich isoliert und streng geometrisch im Raum wie an Fäden. Pro Linie spielen sie jeweils eine Bewegung durch. Oft fangen sie mit kleinen Schritten an und entwickeln das Motiv über die Durchschreitung des Raumes: Die Schulter zieht den Tänzer, die Gelenke knicken bei jeder Bewegung ab, die Hände führen... Jeder Tänzer hat ein Repertoire von solchen gemeinsam erarbeiteten „Triggermotiven“, das er nach eigenem Gutdünken durchspielt und aus der Einzelbewegung eine Bewegungsabfolge schafft, wie es sich gerade ergibt. Daher hat die Tanzperformance keinen Anfang und kein Ende, ist weder Choreografie noch Improvisation. Zugegeben, die Technik ist nicht neu. Aber sie birgt immer noch die Chance, Bewegungskonventionen zu umgehen.

Welche Ideen hinter den Triggermotiven stecken, erklärt Micha Purucker gerne, wenn er vom Publikum gefragt wird: Purucker hat sich intensiv mit den Körper- und Raumkonzepten Giacomettis auseinandergesetzt. Ausschnitte aus wissenschaftlichen Texten, unterstrichen und angemarkert, zeugen davon – sie hängen im Informationsraum nebenan. Sie handeln beispielsweise von der Beziehung zwischen Figur und Raum, auch ein ureigenes Tanzthema. Giacometti hat die Grenzen neu ausgelotet und vertraute Wahrnehmungsmuster gebrochen: Seine bekanntesten Plastiken sehen selbst von nah aus, als ob die Figuren ganz weit weg wären, entschwinden würden, weil sie ihrem Erscheinungsbild am Sichthorizont des Betrachters nachempfunden sind. „Absent while present“ - so erklärt sich auch das Motto der Performance von Micha Purucker.
Diese Spannung, die Gioacometti zum „unsinnlichen Plastiker“ macht, hat Purucker in Tanz übertragen. Dadurch soll wieder Sinnliches entstehen. Das funktioniert aber nur bedingt: Denn auch, wenn man den Tänzern Stephan Herwig and Victoria Chiu bestimmt keine mangelnde Professionalität vorwerfen kann, so ist Puruckers Performance als intellektuelles Erlebnis angelegt, als abstrakter Konzept-Tanz. Der Zuschauer setzt sich daher mit einigen rationalen Fragezeichen auseinander, die in seinem Kopf auftauchen, während er den ferngesteuerten Zombie-Tänzern bei ihrer Linienführung zuschaut. Aber nicht mit Gefühlen.

Bestärkt wird diese Rezeptionshaltung dadurch, dass die Performance bereits nach 20 Minuten von einem wissenschaftlichen Vortrag das erste Mal unterbrochen wird. Freilich, der Zuschauer darf auch in der Black Box mit den Tänzern bleiben. Nur: Bei all den Fragezeichen im Kopf – wer wollte da nicht einen klärenden Vortrag hören? Fast alle Zuschauer räumen freiwillig die Raumkapsel. Ohne zu ahnen, dass sie bald mit noch mehr Fragen zurückkehren werden. Eigentlich ist es schön, wenn Kunst Denkprozesse anzustoßen vermag. Nur, wenn es dann darum geht, nachvollziehen zu wollen, wie die Einzelelemente der Gesamtperformance kausal zusammenhängen, dann ist das Denken in dem Moment vielleicht doch kontraproduktiv. Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen und rhetorischer Güte geben nämlich im Vortragsraum Einblick in ihre Forschungsbereiche, die nur entfernt mit Giacometti zu tun haben: Eine Ästhetikerin spricht darüber, inwiefern Blinde von ihrem Körper in der Welt-Wahrnehmung abhängen und wie eine Stadt für sie umgestaltet werden müsste, eine Kulturwissenschaftlerin über die Tanzwut in Krisenzeiten, ein Mediävist über Mystik, ein Religionswissenschaftler über das Stehen.
Der Tanz wird bei all den intellektuellen Verwirrungen zur Nebensache – und damit dem Giacometti-Motto gerecht: absent while present.

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