„episodes of glam + gutter“ von micha purucker. Tanz: vorne: Marcos Nacar, hinten: Polina Sonis und Michal Heriban, Mitte Hikaru Osakabe und Aurora Bonetti

„episodes of glam + gutter“ von micha purucker. Tanz: vorne: Marcos Nacar, hinten: Polina Sonis und Michal Heriban, Mitte Hikaru Osakabe und Aurora Bonetti

Menschliche Planeten - ihre Endlichkeit schon im Blick

Die Uraufführung von Micha Puruckers „episodes of glam + gutter“ im Münchner Schwere Reiter

Gerade denkt man noch, dass einiges nach dem Schlamm verregneter Rock- und Punkfestivals riecht und nach dem einsamen Cowboy, der in den Sonnenuntergang reitet. Und dann geht tatsächlich die Sonne unter.

München, 18/01/2024

Die Titel von Micha Puruckers Stücken sind oft übercodiert und rätselhaft. „episodes of glam + gutter“ ist da vergleichsweise straightforward. „glam + gutter“ markiert und überbrückt den Abstand zwischen glitzerndem Rampenlicht und Gosse und zieht einen Rattenschwanz an Konnotationen hinter sich her. Vor allem, wenn man weiß, dass das neue Gruppenstück des Münchner Choreografen prägende Einflüsse und eigene Schaffensphasen Revue passieren lässt, und das im vierzigsten Jahr seiner Bühnenkarriere. 

Auf der Suche nach sprechenden Zeichen und Artefakten aus Bildender Kunst, Architektur und Film bleibt der Blick über die blütenweiße Bühne im Schwere Reiter an einem Lammfell hängen und gleitet an zwei gebogenen Stellwänden vorbei; die eine zeigt dem Publikum ihre konvexe, die andere ihre konkave Seite. Bestehend aus Noppenbahnen, die man sonst für Drainagen verwendet, spielen diese Rundungen auf Le Corbusiers bekannte Wallfahrtskapelle Notre-Dame-du-Haut an und auf den „tropisierenden“ Modernismus eines Oskar Niemeyer. Und vermutlich auf noch einiges mehr, was der Betrachter nicht unbedingt wissen muss. 

Gegen Ende des knapp siebzigminütigen Abends werden sich alle sechs Tänzer auf eine Weise um sich selbst drehen, die diese Wölbungen aufnimmt und ins Räumliche erweitert. Diese Episode aber bleibt eine Ausnahme, lineare Wege und energetisch nach innen gerichtete Bewegungen dominieren das Stück, dessen sehr unterschiedliche Szenen eine sehnsüchtige Stimmung verbindet, „patterns of odd feelings“ webend, wie der Untertitel verspricht. Aber Purucker wäre nicht Purucker, würde er diese „seltsamen Gefühle“ benennen, geschweige denn illustrieren. Wovon sie möglicherweise herrühren, davon vermittelt der Programmflyer um die 100 Ahnungen: Mit ebenso vielen Orts- und Künstlernamen, Film- und Musiktiteln zwischen den „Wolfskindern von Midnapore“, Amanda Lear, Majakowsky und dem Oktoberfest. Nur schlecht zusammenpassende Memory-Kärtchen aus mehr als sechzig Jahren Leben. Da ist man am besten beraten, sich auf der Woge der eigenen Erinnerung durch die Szenen treiben zu lassen. Und der süffige Soundtrack hilft einem dabei. Robert Merdžo hat dazu erstaunlich Rockiges gesammelt, re-komponiert und zu einem Track verschnitten, der macht, dass man sich auf der Stelle in die achtziger Jahre zurückwünscht. Lou Reeds Gitarren lassen grüßen, diverse Filmmusiken - und ganz von fern auch David Bowies retrofuturistische Phantasien. Dazu tanzen Aurora Bonetti, Michel Heriban, Marcos Nacar, Hikaru Osakabe, Anise Smith und Polina Sonis allein oder in wechselnden Paaren und Kleingruppen, mal wie Sparringpartner auf allen Vieren einander taxierend, aber meist eher für sich und vage verloren. 

Vieles erkennt man wieder an diesem ungeheuer tänzerischen Abend. Schmelzende Glieder, das unverdrossene Bahnenziehen mit dem Rücken zum Publikum, vor- und rückwärts federnde Schrittsprünge, Heribans hinter dem Körper Zeichen machenden Hände und mächtig rudernden Schultern. Gerade denkt man noch, dass einiges davon nach dem Schlamm verregneter Rock- und Punkfestivals riecht und nach dem einsamen Cowboy, der in den Sonnenuntergang reitet. Und dann geht tatsächlich die Sonne unter: Um einen erleuchteten vertikalen Schlitz in der Bühnenrückwand glimmt ein abendrotes Rechteck auf. Zwei der Jungs sitzen in gelben Lichtkreisen am Boden und Bonetti adressiert die Wand mit einem so coolen und sexy Solo, dass sich allein dafür der Besuch des Abends lohnt. 

Was immer ihre eigentliche Agenda ist: Hier agieren Menschen wie Planeten, die ihren eigenen Regeln gehorchen, ihre Vergänglichkeit schon im Blick. Man fühlt sich nicht gerade eingeladen, ihnen zu folgen, würde aber gerne irgendwann zu ihnen gehört haben. Unbedingt.

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