„100.80.40 – rats in the living room /études pathétiques“ von Micha Purucker. Tanz: Aurora Bonetti, Linus Jansner, Polina Sonis

„100.80.40 – rats in the living room /études pathétiques“ von Micha Purucker. Tanz: Aurora Bonetti, Linus Jansner, Polina Sonis

Kosmos der Gefühle

Uraufführung von Micha Puruckers „100.80.40 – rats in the living room /études pathétiques“ im Schwere Reiter München

Gepflegtes Wohnzimmerambiente mit Gestalten aus Dalí-Bildern

München, 16/01/2023

Keine Spur von Installation oder über die Wände plakatiertem Zettelwust findet sich in der Uraufführung „100.80.40 – rats in the living room“. Dafür lüftet der Programmzettel das im Titel verborgene Zahlenrätsel: Pier Paolo Pasolini wäre 2022 100 Jahre alt geworden, Derek Jarman 80 und Rainer Werner Fassbinder ist vor vier Jahrzehnten gestorben. Anstoß genug für Micha Purucker, einen ziemlich losen, mehr assoziativen Tanzabend um die drei Filmregisseure und deren Werk zu ersinnen. In früheren Arbeiten hat sich Purucker bereits mit Persönlichkeiten aus der Kunst-, Pop- oder Literaturszene wie Giacometti, Bacon, Lassnig, Bowie oder Genet gekonnt auseinanderzusetzen gewusst.

Dieses Mal lässt er seinen Bühnenraum ganz in Weiß erstrahlen. Dieser wirkt sogar ungewöhnlich proper und aufgeräumt. Einzige Akzente sind ein niedriger Hocker und eine grüne Zimmerpflanze – aufgestellt wohl als Symbole für ein im weitesten Sinn gepflegtes Wohnzimmerambiente: perfekte Atmosphäre für ein undurchschaubares Figurenarsenal, das – zwar irgendwie in Feierlaune – mal Langeweile, mal Abschottung und Einsamkeit oder plötzlich sprunghaft ausbrechende „Frohnatürlichkeit“ auslebt.

Alles scheint alltäglich, nichts daran ist spektakulär. Getanzt wird innig – entweder einzeln, in sich umschlingenden Paaren oder sporadisch sehr synchronbewusst zu dritt. Man gibt sich in den choreografisch aneinandergereihten Sequenzen so impulsiv unstet wie der von Robert Merdžo begleitend unterlegte Klangmix. Auf diese Weise entfalten Aurora Bonetti, Michal Heriban, Linus Jansner, Marcos Nacar, Anise Smith, Polina Sonis und Lina Wailzer mit der Zeit jene charakterlich mysteriösen Sonderbarkeiten, die ein Publikum in Bann ziehen, selbst wenn sich handlungsmäßig nichts erschließt.

Micha Purucker, dessen Interesse für Architektur hier durchscheint, bricht in „100.80.40 – rats in the living room“ die sonst übliche Abgeschlossenheit der Guckkastenbühne nach hinten hinaus auf, indem er beide Türen der Rückwand im neuen Schwere Reiter öffnet. Dadurch wird der Blick frei auf dahinterliegende Raumfluchten, mit denen Puruckers insgesamt sieben Tänzerinnen und Tänzer über Rückzugsbereiche verfügen. Michael Kunitsch bezieht diese in sein gleichfalls recht sprunghaftes Lichtkonzept mit ein.

Zwei seitliche Spiegel, denen sonst keinerlei Beachtung geschenkt wird, unterstützen ein sporadisches Aufflackern farbiger Stimmungseffekte. Weil Puruckers Performer*innen immer wieder in eine Art introvertierte Lethargie verfallen, mag man diese gut und gern für psychedelische Energieschübe halten. Reizvolle Momente ergeben sich jedenfalls immer wieder, insbesondere wenn Puruckers Interpreten wie Gestalten aus Dalí-Bildern die Wände herab zerfließen und dann weiter gequetscht im Winkel zum Boden hin agieren.

Allerdings zieht es sich schon hin, das Kommen und Gehen, die Befindlichkeiten im Dazwischen von Aktivität und Passivität sowie die geschmeidige Launenhaftigkeit sich im Raum dahintreiben lassender Körper. Kaum kommt das Stück in Fahrt, wird dessen quasi spontaner Fluss schon wieder unterbrochen – durch sich wiederholend relaxte Posen. In Aufbruchsstimmung formieren sich Paare zu einer munteren Polka. Man kreuzt sich einmal im Raum und quert die Bühne noch ein zweites Mal. Danach ist die halbe Gruppe auf und davon.

Viel schöner Schein, den der Choreograf durch einen langen finalen und bloß pantomimischen Auftritt von Christopher Robson zur Songeinspielung „Stormy Weather“ als funkelnde Gesangsdiva zu belanglos verläppern lässt. Leider, denn die drei auf dem Programmzettel abgedruckten Gedichte von Christoph Klimke zu Pasolini, Jarman und Fassbinder haben es in sich.

 

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