Wohin steuert das Staatsballett Berlin?

Ein paar Nachgedanken zu mit oder ohne Tutu

oe
Stuttgart, 24/05/2008

Was will Berlin? Aber wer ist Berlin? Ist es Klaus Wowereit? Ist es Lothar Bisky? Und was die Freunde des Tanzes betrifft: Ist es das Staatsballett Unter den Linden – sind es die Kraftwerker vom Radialsystem? Die unterschiedlichen kritischen Reaktionen auf den Tutu-Ballettabend in der Staatsoper haben mich wieder einmal leicht verunsichert. Das Publikum schien begeistert. Vielleicht liegt es ja an meiner Schwerhörigkeit, aber ich habe kein einziges Buh vernommen (und die Berliner sind ja sonst alles andere als zögerlich, wenn es gilt, ihr Missfallen zu bekunden). Andererseits titelte der Tagesspiegel zwei Tage später: „Der Mief von tausend Tüllröckchen“ (wie wenn die 68er mitsamt ihren Talaren an diesem Abend fröhliche Wiederauferstehung gefeiert hätten).

Einig waren sich Kritiker und Publikum immerhin noch beim Eingangsstück: William Forsythes „The Vertiginous Thrill of Exactitude“. Aber Forsythe zu bewundern, ist heute ein Akt der ballettpolitischen Korrektheit, zumindest in Deutschland – denn in New York und London gehören immerhin Clive Barnes und Clement Crisp nicht zum Clan der hundertprozentigen Forsythe-Fans. Nun hatte ja aber Berlin mit Semionova, Knop und Nakamura, Malakhov und Tamazlacaru wirklich eine Tänzerequipe der allerersten Garnitur aufgeboten – und es war insbesondere der Chef höchstpersönlich, Malakhov, der nach mancherlei Blessuren der letzten Zeit zu seinem früheren internationalen Format und Finish zurückgefunden hatte. Tatsächlich bestätigte die Einstudierung und Ausführung dieser äußerst schwierigen Forsythe-Choreografie die professionelle Kompetenz, die die Kompanie im vierten Jahre ihrer Arbeit unter der Leitung von Malakhov gewonnen hat. Allein schon bei der zweiten Programmnummer, „Courting the Invisible“ von der Amerikanerin Jodie Gates, die bei Joffrey in New York und bei Forsythe in Frankfurt getanzt hatte, drifteten die Meinungen einigermaßen auseinander.

Nicht beim Publikum, das sich auch hier an dem großen Tänzeraufgebot, mit Nadja Saidakova und Michael Banzhaf an der Spitze der Achtzehn-Tänzer-Equipe, delektierte, während die Kritik unterschiedlich in ihrer Bewertung ausfiel (Die Welt: „Eine visionäre, qualitätsvolle Uraufführung mit gehaltener Spannungskurve, sicher die bisher stärkste, tänzerisch dankbarste in der erst vierjährigen Berliner Staatsballettgeschichte“ – die FAZ: „Fünfundzwanzig Minuten Langeweile“). Das Publikum schwelgte hier in der Feel-Good-Salonmusik der Geschwister Mendelssohn, wie es anschließend in den Wonnefluten des „Bruch Violin Concerto Nr. 1“ badete, einem Hit der New Yorker Saison des Jahres 1988, von dem Jungstar Clark Tippet, Tänzer und Choreograf des American Ballet, damals 33 Jahre alt, der bereits vier Jahre später als eins der ersten Aids-Opfer starb. Von Anna Kisselgoff, der damaligen Chefkritikerin der New York Times, in den höchsten Tönen gepriesen (nachzulesen im Berliner Programmheft), brandmarkte ein deutscher Kollege die „mechanisch im Raum abgespulten Bewegungsfolgen im Raum“ als „einen menschlichen Verschiebebahnhof“ und klassifizierte das von den Amerikanern hoch geschätzte Ballett als einen „der leider wiederkehrenden Fehlgriffe Vladimir Malakhovs“.

Also wieder einmal die schon wiederholt konstatierte Diskrepanz der amerikanischen und der europäischen Kritik (ich wünschte mir endlich einmal eine Doktorarbeit, die sich dieses Phänomens annimmt)! Kommt mir immer vor wie: „Haust Du meinen Béjart, Kylián oder Neumeier, hau ich Deinen Morris, Lubovitch oder Kudelka!“ Überfliege ich das runde halbe Dutzend der mir vorliegenden Berliner Kritiken, spüre ich allenthalben eine gewisse Unzufriedenheit mit Malakhov und dem Kurs des Staatsballetts Berlin. Nun wissen wir alle nicht erst seit den Tagen Gerhard Brunners, was für ein vermintes Terrain die Berliner Ballettsituation ist. Das wusste auch Malakhov, als er zur Spielzeit 2004/05 sein Amt antrat und seine Zielsetzungen erläuterte. Er wollte eine Kompanie aufbauen, die es mit den besten Truppen der Welt aufnehmen kann – und da denkt man natürlich sofort an St. Petersburg und Moskau, an London und Paris und an zweimal New York (und erst danach an Kopenhagen etc.). Das ist ein hehres Ziel, und das braucht Zeit. Und ich finde, dass Malakhov da mit seinen Mitarbeitern in bemerkenswert kurzer Zeit enorm viel geschafft hat – vor allem was den Aufbau und die ständige Qualifizierung der Tänzer angeht. Wenn vielleicht auch noch nicht mit den Mariinskys und Bolschois, den Königlichen Londonern oder den Opéra-Parisern, und den beiden Konkurrenten aus Manhattan, so kann es Berlin doch heute in puncto tänzerische Qualität ohne weiteres mit Hamburg, Stuttgart und München aufnehmen (wie sehr wünschte ich, wir hätten eine Polina Semionova in Stuttgart!) – Dresden, Zürich, Forsythe immer au concours.

Grundsolide das Klassikerrepertoire von Bournonville und Coralli/Perrot über Petipa/Iwanow bis zu Cranko und Ashton (nicht zu retten für Deutschland, und schon gar nicht für Berlin, dessen „Sylvia“) – inklusive Malakhovs Wien-kreierte „Bayadère“ (die ich den Versionen in Hamburg und München entschieden vorziehe). Auch Balanchine und Robbins sind angemessen vertreten. Béjart sogar mit einem seiner Hauptwerke. Das alles und noch anderes durchaus Sehenswertes in knapp vier Jahren realisiert zu haben, finde ich eine bewundernswerte Leistung. Problematisch dagegen die Malakhov-Eigenkreationen à la „Cinderella“ und „Dornröschen“ – da hätte ich mir Berlin-spezifischere Produktionen gewünscht (wie Neumeiers so ausgesprochen auf Hamburg zugeschnittene Tschaikowsky-Klassiker).

Und das ist es eben, was ich in Berlin, am Berliner Repertoire vermisse: eine dezidierte Berliner Kompanie-Identität. So wie sie früher einmal – lang ist‘s her – von den Tatjana-Gsovsky-Balletten geprägt wurde. Vielleicht ist‘s ja zu früh, das schon heute zu erwarten. Aber wenn ich mir die Ankündigungen für die nächste Spielzeit ansehe, mit den Abendfüllern von Bigonzettis „Caravaggio“, Preljocajs „Schneewittchen“ und Patrice Barts Shelley-inspiriertem „Flammendem Herz“, habe ich wenig Hoffnung, dass sie zur Profilierung einer so nur in Berlin möglichen Identität beitragen werden. Da scheint mir eine Repertoire-Entwicklungsperspektive am Werk, die eher am Beispiel des American Ballet Theater orientiert ist – ein Sammelsuriums-Repertoire, das mehr auf den Glanz von Startänzern als auf choreografische Substanz setzt.

Und da finde ich, dass Berlins Vize-Lady Malakhov behutsam an die Hand nehmen und darauf hinweisen sollte, dass wir hierzulande doch etwas andere Geschmacksvorstellungen als in New York oder St. Petersburg haben. So ganz scheint Malakhov seine sowjetisch-russischen Vergangenheit doch noch nicht hinter sich gelassen zu haben. Da geht es ihm nicht gar so anders als seinen beiden Landskollegen Nurejew und Baryschnikow. Wenn ich ihn mit den beiden vergleiche – gerade auch in ihren Funktionen als Direktoren des Pariser Opéra Balletts und von ABT in New York –, erscheint mir Malakhov als der vielleicht weniger glamouröse, dafür aber stetigere, langfristiger planende Chef.

Baryschnikow war von 1980 bis 1989 Direktor des ABT in New York (und das waren ziemlich turbulente Zeiten), Nurejew von 1983 bis 1989 Direktor des Pariser Opéra-Balletts (und auch seine Karriere an diesem Haus war keine geradlinig verlaufende Kurve). Malakhov trat sein Amt als Intendant des Staatsballetts Berlin im Herbst 2004 an (und das ist eine Position, die über die Befugnisse der beiden anderen als Artistic Directors hinausgeht). Bei den ständigen personellen Fluktuationen an den Berliner Opernhäusern – und der großen Ungewissheit, wo die Kompanie unterkommen wird, wenn das Haus Unter den Linden von 2010 bis 2013 umgebaut wird, werde ich mich hüten, irgendwelche Prognosen über die Weiterentwicklung des Staatsballetts abzugeben. Aber wünschenswert erscheint mir ein langfristiges Zusammenwirken des Tandems Malakhov-Theobald durchaus. Fragt sich nur, ob Berlins Kulturpolitiker, die in der Vergangenheit so wenig Instinkt für die Notwendigkeiten einer gedeihlichen Ballettentwicklung in ihrer Stadt bewiesen haben, aus ihren Fehlern gelernt haben und die realen Chancen erkennen, für die Malakhov und seine Mitarbeiter in (nur) vier Jahren eine so grundsolide Basis errichtet haben.

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