Wachgeküsst nach mehr als hundertjährigem Schlaf

Berlin besinnt sich auf einen Großen seiner Ballettgeschichte: Paul Taglioni

oe
Berlin, 10/04/2008

Nachgerade komme ich mir wie ein Lobbyist vor – in Sachen Paul Taglioni nämlich, der von 1829 bis 1883 das Ballettleben in Berlin geprägt hat wie vor und nach ihm kein anderer (auch – noch – kein Vladimir Malakhov). Und den ich für einen der meistunterschätzten Choreografen der Ballettgeschichte halte. Weswegen ich mich bereits zweimal im koeglerjournal für ihn engagiert habe – und zwar nach dem Erscheinen der beiden von Gunhild Schüller-Oberzaucher herausgegebenen Bände „Souvenirs de Taglioni“ bei K. Kieser in München (am 1.6.2007 und am 5.1.2008). Dort habe ich dafür plädiert, dass „man sich in Berlin einmal zusammensetzte – vielleicht in der Runde Rolf Iden (als Verfasser der diversen Tagioni-Artikel in der Piper-Enzyklopädie), Vladimir Malakhov, Christiane Theobald, Ralf Stabel und Volkmar Draeger –, um zu überlegen, wie man zu einer eignen Berliner Ballettversion des ‚Korsaren‘ kommen könne, die zu einer Identitätsfindung des Staatsballetts beitragen könnte.“ Soweit sind wir indessen noch nicht. Immerhin erschien in der „Berliner Morgenpost“ am 12. Januar 2008, also eine Woche nach dem letzten kj in Sachen Taglioni, ein Artikel zum 200.Geburtstag von Paul Taglioni: „Der Goethe der Choreographie“, der ihn mit einem zeitgenössischen Zitat als „ein Zauberer“ feierte, „der Schiller, der Goethe der Choreographie“, verfasst von Frank-Rüdiger Berger.

Jetzt erreicht mich das neueste Programm des Staatsballetts Berlin, mit der Ankündigung zweier Vorträge: „Der Göthe der Choreographie – Paul Taglioni zum 200. Geburtstag“ (am 12. April um 12.30) und „Eine Ballerina mit Hörnchen und ein Unterseekabel – Zu Paul Taglionis Erfolgsballetten ‚Satanella‘ und ‚Flick und Flock‘ (am gleichen Tag um 14 Uhr – beide im Ballettcafé der Berliner Staatsoper Unter den Linden, bei freiem Eintritt). Vortragender ist Frank-Rüdiger Berger, MA, „Theaterwissenschaftler, langjähriger Presse-Assistent an der Staatsoper Unter den Linden. Forscht derzeit über Paul Taglioni.“ Endlich! So wäre denn also der Anfang gemacht zu einer Reevaluation des verdienten Berliner Ballettmanns. Es wurde aber auch höchste Zeit – nachdem wir verfolgt haben, wie sehr sich etwa von Paris aus Pierre Lacotte – wenn auch mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen – um die Restauration berühmter Klassiker des 19. Jahrhunderts bemüht hat (in Berlin beispielsweise mit seiner gründlich verunglückten Version von „Le Lac des Fées“) – oder Millicent Hodson und Kenneth Archer beim Joffrey Ballet um Nijinskys Original-„Sacre du printemps“.

Derartige Restaurationen und Rekonstruktionen haben natürlich immer etwas Problematisches an sich – siehe auch die diversen ‚originalen‘ Petipas in jüngster Zeit in München, Moskau und St. Petersburg (und auch Kopenhagen hat ja da seine eigenen Erfahrungen mit seinen diversen Wiederbelebungsversuchen von Bournonville gemacht). Doch wer wollte deswegen darauf verzichten! Es bedarf ebensolcher historischer Lobbyisten. Ein gutes Beispiel liefert da Wien – ich wollte, es gäbe einen Alfred Oberzaucher von Berlin! Denn was der für Wiens Joseph Hassreiter und dessen „Puppenfee“ an PR über die Jahre geleistet hat, brächte ihm, gäbe es so etwas, sicher den Orden „in appreciation of his life time achievement“ ein.

Übrigens dieses Wien! Es ist auch in der neuesten Ausgabe des amerikanischen „Dance Chronicle“ (vol. 28, number 1, 2008) vertreten, der ersten unter den neuen Herausgeberinnen Lynn Mattluck Brooks and Joellen A. Meglin – mit einem Beitrag von George Jackson über „New Look, Old Cinders“ über „Aschenbrödel/Cinderella“, das Johann-Strauß-Ballett mit der Musik von Josef Bayer, aufgehängt an der Version, die Renato Zanella für die Wiener Staatsoper choreografiert hat. Jackson holt darin weit aus über das Verhältnis von Johann Strauß (den die Amerikaner immer Strauss schreiben, weil sie kein Zeichen für ß haben – genau wie bei Ihnen ja auch Fanny Elßler immer als Elssler fungiert) zum Tanz und zum Ballett. Dieser George Jackson ist übrigens nicht der militante Song-Writer, sondern als Biologe ein inzwischen pensionierter namhafter Wissenschaftler, der ein ausgesprochener Ballettfreak und als solcher der führende amerikanische Wiener „Puppenfee“-Lobbyist ist.

Übrigens ist der Hauptartikel dieser Ausgabe „Antony Tudor's Lost Ballets“ gewidmet (48 Seiten), rechtzeitig zu seinem hundertsten Geburtstag am 4. April dieses Jahres (und nicht, wie im Mainzer Programmheft XXVI behauptet, erst im kommenden Jahr – eine Fehlinformation, beruhend offenbar auf „Friedrichs Ballett-Lexikon von A-Z“ – und von oe prompt in seinem kj vom 2. März abgeschrieben). Also auf zu den beiden Taglioni-Vorträgen von Frank-Rüdiger Berger, dem Berliner Taglioni-Lobbyisten, am Samstag, während die restliche Ballettwelt voller Spannung der Münchner Schläpfer-Uraufführung am gleichen Abend harrt!

 

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