Taumeln auf Glatteis

Eröffnung der euro-scene mit „Entracte“ von Josef Nadj

Leipzig, 05/11/2008

Leipzig ehrt Josef Nadj. Er, so wird man seitens der euro-scene nicht müde zu betonen, ist einer der wichtigsten, bedeutendsten Choreografen Europas und unserer Zeit. Das sagt nicht viel. Denn würde man einem der unwichtigsten Choreografen unserer Zeit im Verlauf eines sechstägigen Festivals für drei Produktionen sechs Vorstellungstermine geben? Wenn dieser aus dem ehemaligen Jugoslawien stammende, heute in Frankreich lebende Künstler für über zwanzig Jahre seiner Arbeit geehrt werden soll, warum dann mit einem so unsensiblen wie unverzeihlichen ästhetischen Irrtum, was die Wahl des Ortes angeht.

Die Deutschlandpremiere seines Stückes „Entracte“, vom März dieses Jahres, zugleich Eröffnung des 18. Festivals „euro-scene“, unter dem Motto „Taumelnd auf glatter See“ findet in der Leipziger Peterskirche statt. Der protestantische, neugotische Sakralraum wird total geleugnet, indem man eine schwarze Guckkastenbühne mit Vorhang samt aufsteigender Zuschauertribüne wie in einem Stadion ins Mittelschiff der Kirche geklotzt hat. Warum wählt man einen Ort, um dann Unmengen an Material, Kraft und sicherlich auch Geld zu investieren, nur um enorme Anstrengungen darauf zu verwenden, diesen Raum so unkenntlich als nur möglich zu machen. Völlig unverständlich das Verhalten der Eigentümer, denen an ihrer Kirche offenbar so wenig liegt, dass Vermietungsgebühren weder spirituelle noch ästhetische Einsprüche zulassen. Man muss ja nicht mal gläubig sein, um da ins Taumeln zu geraten.

„Entract“ heißt so viel wie „Pause“, ist aber ein auf 64 Minuten konzipiertes Projekt in 64 Teilen ohne Pause. 64 Teile deshalb, weil einer der ältesten chinesischen philosophischen Texte, „I Ging“ oder „Das Buch der Wandlungen“ aus genau 64 Hexagrammen besteht, eine Darstellung der Welt, in Zeichen. Zu Beginn „Das Schöpferische“, „Das Empfangende“ und „Die Anfangsschwierigkeit“ und zum Beschluss folgt „Des Kleinen Übergewicht“ der „Inneren Wahrheit“ und die Erkenntnis, dass „Nach der Vollendung“ „Vor der Vollendung“ ist.

Wenn der Vorhang aufgeht haben wir viel zu sehen und zu hören. Vier Musiker im schwarzen Bühnenkasten unter ungefähr 80 Glühbirnen, hinter und zwischen Podesten, Versatzstücken, Treppen, durchscheinenden Wänden, sowie links und rechts am Portal je einem leuchtenden Eisblock. Oder doch Wohndesign? Die Musiker bearbeiten zwei große Percussionsbatterien, zwei Kontrabässe, Klarinetten, Saxophone, unbekannte Streichinstrumente, die man auch schlagen kann. Da sind wahrhaft orgiastische Klangkaskaden zu erleben, da werden Wut und Verzweiflung in die Instrumente geschlagen und geschrien, Zartheiten werden gezupft, geflüstert, das Geheime wispert, grummelt und räuspert. Was will der Mensch da ausrichten, gegen so viel Urgewalt des Klanges? Was kann der Körper auf die Bühne malen gegen so raumgreifende Klangbilder? Der Mensch in diesem Chaos der klingenden Emotionen begibt sich als Zeichen der Zerbrechlichkeit pausenlos an die letztlich unlösbare Aufgabe zwischen den Rudimenten überkommener Zeichen Wege zu finden. Auswege, Umwege, Heimwege. Allein, zu mehreren, miteinander, gegeneinander.

Josef Nadj hat mit knappem Bewegungsmaterial, trippelnd, krampfend, immer irgendwie verquer, schmerzverzerrt und schweißtreibend eine Partitur aus Körperzeichen geschrieben, die nicht zu lesen ist, vielleicht partiell zu erahnen. Das Spiel in dessen Mittelpunkt er selbst steht und fällt, auf der schwarzen Bühne mit Versatzstücken, Requisiten und Farben, zu dem sich noch zwei Männer und eine Frau verschworen haben, entzieht sich meiner Teilnahme als Zuseher. Es könnte, so manchmal der Eindruck, bei geschlossenem Vorhang stattfinden, und es wäre interessant zu erkunden, ob die performative Kraft einer solchen Wahrheit, nicht ehrlicher wäre als die offene Bühne für das Gebaren einer geschlossenen Gesellschaft bei zahlenden Zuschauern. Der Tanz bricht sich insofern immer wieder Bahn, als dass die Protagonisten bei verschiedenen Arten sich aufzurichten, mit der Schwerkraft, bei nachlassenden Kräften, in unterschiedliche Formen des Kampfes geraten. Das Spiel wird skurril und grotesk, auch ein wenig einfältig, wenn einäugige oder einmündige Riesen Scheren gebären, mit denen andere anderen an den Kragen gehen oder Leitungen kappen, wenn in pittoreskem Schattenspiel Raubfische tödliche Zungenküsse tauschen. Frauenfüße werden in rote Farbe getaucht und über eine Papierbahn gezogen, weiße Blumen werden in rote Farbe getaucht. Bedeutung! Bedeutung! Bedeutung! Dazu die bedeutungsvollen Minen der Protagonisten.

Am Ende, die emotionalste Tat, wird eine Glasscheibe zertrümmert, ein „richtiger“ Eisblock schmilzt unter dem Zeichen der gemalten Schildkröte, die geschätzten 80 Glühbirnen verlöschen langsam, der Vorhang schließt sich. Freundlicher Applaus. Zum dritten Vorhang lässt sich das Ensemble lange bitten. In Erfolgstaumel gerät niemand. Alles ziemlich glatt am Ende. Beim anschließenden Eröffnungsempfang heißt es mehrfach in unvorbereiteten Reden, dass das eben großartig war, und wenn ich die deutungsbeflissene Festivalchefin richtig verstanden habe, hatte es sogar mit der Finanzkrise zu tun. Und mit Barak Obama nicht?

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