Mein lieber Schwan!

„Schwanensee“ in Chemnitz, nicht auf Spitze, aber spitze getanzt

Chemnitz, 02/11/2008

Alles ist Echo. Manche Menschen verstummen, wenn sie Musik hören. Andere sprechen darüber. Andere wiederum bewegen sich zur Musik. Sie tanzen. Alles ist Echo. Lode Devos, Ballettdirektor und Chefchoreograf der 23-köpfigen Kompanie der Theater Chemnitz, stellt seine Version des Märchens vor. Sein Echo auf Tschaikowskys Klänge, die als Tänze wunder Seelen von einem Schwanensee singen, der tiefer ist, als wir meinen, klingt am stärksten in der Figur des Prinzen Siegfried nach. Eine verwundete Seele mit gebrochenen Schwingen. Ohne die ausgesprochen guten Eindrücke der Solistinnen und Solisten dieses Abends schmälern zu wollen, muss betont werden, dass letztlich von einem Ensembleerfolg zu berichten ist. Von dem Moment an nämlich, in dem es der starken Truppe gelingt, ihre Energien zu verbreiten und somit der weitverbreiteten Meinung, man wüsste schon wie „Schwanensee“ gehe und vor allem auszusehen habe, konsequent entgegen zu tanzen, nimmt der Abend einen glücklichen Verlauf.

Ein Anlauf aber war nötig, denn der Einstieg, bei dem eine übermütige Jagdgesellschaft ihre Bögen als Waffen und Animiergegenstände nutzt, wirkt weniger konsequent und ausgeformt als die weiteren erzählenden oder assoziierenden Tanzsequenzen des Abends. Bald schon nimmt Devos mit seiner Choreografie und vor allem mit seinen Tänzerinnen und Tänzern das Publikum mit auf einem so romantischen wie rauschhaften Weg, an dessen Ende eine Überraschung steht. Am allgemeinen Handlungsverlauf wird nicht so sehr viel verändert. Auf Divertissements und Nationaltänze hingegen wird zugunsten einer fortlaufenden Erzählweise verzichtet. Das mag mancher bedauern, „Entschädigung“ erfährt man aber, wenn jene Musiken teilweise in den Verlauf eingebunden sind und je nach Temperament und Gestus Anlässe für ausgelassene Sprungvarianten oder stimmungsvolle, romantische Passagen bieten. Kein klassischer Spitzentanz, aber ein Abend, an dem spitzenmäßig getanzt wird. Klassische Elemente auf halber Spitze, Formen des modernen Tanzes und Zitate aus der Kunst des Showtanzes mischen sich. Attraktive und temperamentvolle Gruppenchoreografien im Wechsel mit intimeren Szenen, Soli oder Duetten, die äußerst ansprechend von den Solisten dargeboten werden.

Es beginnt mit wildem Balzen und Bolzen, es wird gejagt und man jagt sich. Junggesellenabschied für Prinz Siegfried. Spielchen und Spiele, Alkohol. Alles endet im Rausch. Der Traum im Rausch führt Siegfried geradewegs an den Schwanensee. Und schon verschwimmen Wunsch und Wahn. In der springfidelen Gesellschaft der übermütigen, dreisten Jägerinnen und Jäger fühlte sich der Prinz ohnehin nicht wohl. Diesen gebrochenen Träumer tanzt Clément Bugnon. In seinen Sprüngen, die im Verlauf des Abends an Freiheit und Anmut gewinnen, scheint er sich zunächst selbst einfangen zu wollen. Wir gehen sicher nicht fehl in der Annahme, zumal sich ja von Beginn an auf der Bühne von „Katxua“, José Pelejero Pastor, die Dinge wie von Geisterhand geführt bewegen, herein- oder herausschweben, dass da nicht nur ein Zauber waltet sondern auch ein Zauberer. Armin Frauenschuh ist der Rotbart mit raumgreifenden Gesten im weiten Schamanenrock, den er gebieterisch zu tragen und zu bauschen weiß, besonders bei den Drehungen und weiten Sprüngen.

In dessen Reich angekommen, am Schwanensee, erfährt der Prinz seine Schicksalsbegegnung. Leicht, verspielt, elegant und wenn es sein muss sehr bestimmt, tanzt Leslie Humbert als weiße Schwanengestalt Odette. Dazu die Kompanie im Schwanenrausch. Wilde, weiße Schwäne, männlich und weiblich, in deren Sprungvariationen sich unbändiger Freiheitswille Bahn bricht. Wunderbare Kraft des Tanzes, die in die Höhe strebt. Hoch hinaus, über die Wolken, das ist Siegfrieds Traum, ein Vogel sein, ein weißer Schwan, was sonst. Zunächst aber ist der Traum aus. Szenenwechsel. Brautschau im Schloss. Drei Bräute werden nach dem Erwachen von Frau Mutter Königin, Solène Nusbaum, dem unwilligen Träumer präsentiert. Anne-Frédérique Hoingne, Marija Buschujewa und Caroline Fabre geben als schwarze, hellblaue und silberne Prinzessin in schicken Kleidern (Kostüme: Christiane Devos) ihr Bestes. Vergeblich. Kein Ankommen gegen die fantastischen Sehnsüchte eines jungen Mannes, der sich gar nicht mehr sicher ist, ob er nur vom Fliegen geträumt hat oder schon geflogen ist. Und schon ist er da, der Stachel im Fleisch. Rotbart präsentiert den Schwanentraum in schwarz. In Leslie Humberts Zügen als Odile, erkennt Siegfried die der Odette. Er taumelt in Rotbarts Falle, schwört dem schwarzen Schwan die Treue und bricht den Schwur, den er dem weißen gab. Mein lieber Schwan. Wie soll das ausgehen.

Es geht wieder an den Schwanensee, zu den verzauberten Männern und Frauen, Traumwesen in weiß. Aber handfest. Natürlich hat Rotbart noch mal seinen gewaltigen Auftritt, er sitzt auch am Ende auf dem Thron der Königin, aber ob es seiner Macht zuzuschreiben ist, dass Siegfried sich zu seiner wahren Schwanennatur bekennt, endlich die Flügel weit ausspannt und mit Odette in grenzenloser Freiheit über den Wolken dahin fliegt, bleibt fraglich. Das Zauberreich zerbirst wie ein gesprungener Spiegel. Scherben bringen Glück. Das Publikum steigt nach Irritationen zu Beginn im Verlauf des Abends mit auf und hebt am Ende ab. Dies sicher nicht zuletzt Dank der musikalischen Qualität der Robert-Schumann-Philharmonie unter der Leitung von David Marlow mit der Violinsolistin Heidrun Sandmann. „Schwanensee“ in Chemnitz: Ein Abend, dessen weiße Bilder vor allem, mit den so wilden wie majestätischen, kraftvollen und eleganten Schwanenmännern und Schwanenfrauen, wir getrost zu den Schwanenseevarianten, die wir kennen oder zu kennen meinen, hinzuzählen dürfen.

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