Im Visier der Staatssicherheit: das Stuttgarter Ballett

Auch die Cranko-Kompanie wurde minutiös observiert

oe
Stuttgart, 18/09/2008

Die DDR: ein von der Staatssicherheit bis ins letzte Schlafzimmerbett durchleuchteter Überwachungsstaat? Na und? Als ob wir das nicht schon bis zum Überdruss gewusst hätten! Wirklich? Da ist jetzt ein Buch erschienen: „IM. „Tänzer“ – Der Tanz und die Staatssicherheit“, 231 Seiten stark, bei Schott in Mainz, 24.95 Euro. Der Verfasser: Ralf Stabel, Jahrgang 1965, in der DDR aufgewachsener Kulturwissenschaftler, der sich dem Tanz verschrieben hat. Bekannt geworden ist er als Autor einer Biografie „Tanz, Palucca – Die Verkörperung einer Leidenschaft“ (bei Henschel, Berlin, 2001). Inzwischen promovierter Theaterwissenschaftler mit einer Arbeit „Tanz und Politik“ an der Universität Bremen. Zwischenzeitlich Professor für Tanzdramaturgie und Theatergeschichte an der Palucca Schule in Dresden. Heute Leiter der international hoch renommierten Staatlichen Ballettschule Berlin.

Kennengelernt haben wir einander in den frühen neunziger Jahren auf einem internationalen Kongress in Mexiko. Seitdem habe ich ihn wiederholt ermutigt, die dringend überfällige Geschichte des Tanzes in der DDR zu schreiben – denn ihm hätte ich die zugetraut. Als er mir jetzt vor ein paar Wochen das Erscheinen seines neuen Buches ankündigte, dachte ich: na endlich! und erhoffte mir Aufschluss über die kulturpolitischen und künstlerischen Entwicklungen und die damit befassten Persönlichkeiten, die ich zum großen Teil noch aus meinen Berliner Jahren und den gelegentlichen Besuchen im Osten kannte. Doch nichts davon in dem denkbar uneinladend aufgemachten Band. Dafür gut zweihundert Seiten, exakt recherchiert über die einzelnen mit der Überwachung der Tänzer beauftragten Stasi-Funktionäre und ihre Methoden: ein Zettelkasten der Intrigen und Denunziationen von anödender Erbärmlichkeit. Der arme Stabel, dachte ich, wie hat er damit jahrelang leben können. Die ganze menschliche Miserabilität, anekdotenhaft gesammelt – wie von einem Molière unserer Tage für ein Drama.

Aus Datenschutzgründen sind alle Namen geschwärzt – ein paar immerhin im Personenregister genannt, aber keiner von denen, von denen man zu wissen glaubte, welch eine Rolle sie als Mitarbeiter in der Hierarchie der Staatssicherheit gespielt haben – kein Köllinger, kein Puttke, keine Kant, kein Rebling, kein Burkat, keine Gruber, kein Wandtke – und wie sie alle hießen oder heißen mögen. Nur ein paar Superprominente wie Tom Schilling, Tanztheaterchef an Felsensteins berühmter Komischer Oper, oder Claus Schulz, Tänzerstar der Ostberliner Staatsoper mit eigener Fernsehschau, der relativ früh, wie es damals so schön hieß: „abgesprungen“ war. Und auch keine oder keiner, die oder der in Ostberlin oder in der Provinz rechtschaffen ihrem Ballettjob nachgingen: keine Rita Zabekow, keine Annie Stoll-Peterka, keine Ruth Wolff, keine Gertrud Steinweg, keine Ilse Meudtner, keine Grita Krätke, keine Daisy Spies, keine Vera Bräuer, kein Michael Piehl, kein Georg Groke und kein Werner Ulbrich (der sogar einmal in Stuttgart, unmittelbar vor Cranko, Prokofjews „Romeo und Julia“ choreografiert hat).

Gegen Schluss allerdings gerät man ins Staunen: nicht weniger als achtmal taucht im Personenregister der Name John Cranko auf (zum Vergleich: Balanchine, Béjart, Forsythe, Woolliams je einmal). Nur Tom Schilling aus Ostberlin kommt mit siebenmal vergleichsweise häufig vor. Die beiden, gleichaltrig, hatten sich beim Internationalen Tänzerwettbewerb in Varna kennengelernt und waren gute Freude geworden. Schilling lud daraufhin Cranko und das Stuttgarter Ballett zu einem Gastspiel 1967 an die Komische Oper nach Ostberlin (und Dresden) ein – es war das erste Gastspiel der Stuttgarter in einer der sogenannten Volksdemokratien. Ein unbestrittener Erfolg. „Was dem Osten mit der Idee des Sozialistischen Realismus mehr oder weniger aufgezwungen wurde, erfand Cranko ganz selbstverständlich – und natürlich ohne ideologischen Ballast – in und mit seinen Balletten … Verblüffend sind die Übereinstimmungen in der künstlerischen Konzeption von Cranko und Schilling, die heute vielleicht am konsequentesten von John Neumeier in Hamburg weiterentwickelt wird.“

Die Begeisterung der Schilling-Tänzer für die Cranko-Ballette weckt die Aufmerksamkeit der Stasi, die bei einem Gastspiel ihrer Tänzer im Westen eine „Republikflucht“ befürchten. Nicht ohne Grund. Denn beim nächsten Gastspiel der Berliner 1971 in Helsinki flüchtet eins der Tänzerpaare via Handelsvertretung der Bundesrepublik in den Westen – und zwar nach Stuttgart, „wo John Cranko die Tänzerin engagiert und dem Tänzer eine Anstellung als Tanzpädagoge vermittelt.“ Als die Kompanie in Berlin-Schönefeld wieder heimatlichen Boden betritt, fehlen zwei weitere Tänzerinnen, die einen Zwischenaufenthalt in Stockholm benutzt haben, sich aus dem Staube zu machen. Die Folgerungen sind eindeutig: „Aus den vorliegenden Aufklärungsergebnissen wird deutlich, dass das Crankow-Ballett (sic!) in Stuttgart zum Auffangbecken für republikflüchtige Tänzer aus der DDR wurde. Die Tatsache (…) führt zu dem Schluss, daß Crankow sowie seine Assistentin direkten Anteil an der Abwerbung von Tänzern aus der DDR haben …“ Ein weiterer Bericht des unter dem Decknamen Tom arbeitenden geheimem Informators bei der Birthler-Behörde bestätigt, wie genau Cranko gleich aus mehrfacher Perspektive beschattet wurde: „Während der Gastspielreise des Stuttgarter Balletts (Auftritte Berlin und Dresden) gab es eine Reihe von Anbiederungsversuchen fachlicher Art beim Ballettmeister und Choreografen des Ensembles John Cranko.“

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