„Giselle“ frisch von der Quelle

Arthaus und TDK präsentieren Adams Klassiker mit dem Ballett der Pariser Oper

Berlin, 15/08/2008

Neben der Lise aus „La Fille mal gardée“ von 1789 und der Sylphide aus Filippo Taglionis gleichnamigem Ballett von 1832 ist Giselle die dienstälteste Ballerinenrolle des bis heute international zelebrierten Repertoires. Dass alle drei Damen in Frankreich animiert wurden, die beiden Geschöpfe der Romantik sogar am selben Institut, der Pariser Oper, verklammert sie zusätzlich. Über einer Neueinspielung von „Giselle“ für den DVD-Markt weht daher, wenn denn die Opéra national dafür verantwortlich zeichnet, noch immer etwas vom Flair und vom Nachklang der Uraufführung. Wofür der Deutsche Heinrich Heine einst das literarische Stichwort gab, in der Sage vom rheinischen Bauernmädchen mit der fatal falschen Wahl ihres Liebhabers, und woraus keine Geringeren als Théophile Gautier und Jules-Henri Vernoy ein trächtiges Libretto formten, das ging 1841 herzrührend als gewissermaßen präeuropäische Gesamtproduktion über die Pariser Bühne: mit einem französisch-italienischen Choreografendoppel und einer italienischen Ballerina im Titelpart.

Die gerade bei Arthaus Musik erschienene Aufnahme, mit einem so kenntnisreichen wie wortwitzigen Booklet-Text von Horst Koegler, bezieht sich indes, der allgemeinen Praxis folgend, auf Marius Petipas 1887 für Petersburg revidierte Fassung, wie sie Patrice Bart und Eugène Polyakov 1991 für die Pariser Oper bearbeitet haben und wie Bart sie Ende 2000 auch an der Berliner Lindenoper einstudiert hat. Dass die Inszenatoren dafür auf Alexandre Benois’ Ausstattung von 1924 für Diaghilews Ballets Russes zurückgegriffen haben, erweist sich im Zusammenklang zwischen Dekoration und Kostümen, beide zumindest auf dem Bildschirm von dezent bronzenem Farbton, als rechter Glücks-fall.

Eine dörfliche Lichtung mit strohgedeckten Bauernkaten und einer von Neuschwanstein inspirierten Bergburg im verschwimmenden Hintergrund rahmt den ersten Akt. Laetitia Pujol und Nicolas Le Riche als Hauptpaar agieren in diesem Umfeld so lebendig, dass sie nie in den Ruch kommen, blutleere klassische Schemen zu revitalisieren. Fein im Spiel, plastisch in ihrer Mimik gestaltet sie eine fröhliche Giselle zwischen Scheu und dem Hingerissensein der ersten Liebe. Wie unbeschwert zupackend auch Albrecht seine Rolle anlegt, überzeugt bis in die für beide Étoiles gewiss ungewohnten Nahaufnahmen.

Unverkrampft begleitet die Gruppe, schön, jung und präsent, die Aktion des Paars; selbst Giselles Mutter gerät zwei Nuancen zu jugendlich. Ist der Wildhüter Hilarion in Wilfried Romolis Gestalt von vornherein eher der traditionell ältliche Typus, von dem man kaum glauben kann, dass sich ein frisches Mädchen in ihn verlieben würde, so betört Natacha Quernets Bathilde durch Grandezza und Noblesse und wäre einem Herzog die wohl angemessene Braut. Dass in Paris makelfrei getanzt wird, ob solistisch oder in den bestechend sauberen Ensembles der Dorfjugend, erwartet man geradezu. Wie allerdings Myriam Ould-Braham und besonders Emmanuel Thibault, ein wirklicher Tänzer von Geblüt, den Bauern-Pas de deux adeln, er mit zwei formidablen, technisch gespickten Variationen, bournonvillehafter Fußflinkheit und Landung nach Lufttouren in exakt fünfter Position, geht noch eine Spur darüber hinaus.

Auch im zweiten Akt harmonieren wieder Tanz und Tempi, wie Dirigent Paul Connolly sie dem Orchester abverlangt, auf ideale Weise. Wenn sich hier, in der wunderbar schattenlos fahlen Bläue eines Waldfriedhofs mit pittoresker Kirchenruine, die Atmosphäre sogar über das Video mitteilt, dann hat dieser Erfolg mehrere Väter. Neben Benois’ Ausstattung und Marc Anrochtes Lichtdesign sind es eine atemberaubend synchrone, stilistisch einheitliche Damengruppe – besser geht nimmer! – und freilich die Solisten, Marie-Agnès Gillot etwa als imperial hoheitsvolle Myrtha mit nimmermüder Spitzentechnik.

Dass sich Hilarion angesichts der würfelnden Totengräber an Giselles tragischem Ende pantomimisch schuldig bekennt, ist ein ungewöhnlicher, wiewohl sehr sympathischer Zug. Pujol und Le Riche, der in Paris auch als Choreograf eines „Caligula“-Balletts seine wahrhaft reichen Gaben verteilt, laufen hier zu Hochform auf, bleiben jedoch stets im Dienst der Rollen. Er lässt dank seiner Hebekraft sie wirklich schweben und überrascht in der Coda mit einer solchen Batterie von Entrechats, dass man ihn fast am Rand des Grabes wähnt. Es ist indes die über den Tod hinaus liebende Giselle, die Schlimmeres verhindert und ihm eine zweite Chance im Leben beschert. „Giselle“-Genuss also aus Paris, der einzig wahre.

Arthaus Musik, Adam: „Giselle“. Ballet de l’Opéra national de Paris, 110 Minuten

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern