Erniedrigte und Beschmutzte

„Woyzeck“ von Josef Nadj bei der Leipziger euro-scene

Leipzig, 10/11/2008

„Woyzeck – oder der Entwurf des Taumels“ nennt Nadj seine Version des Büchnerschen Dramenfragments von 1994. Jetzt war das Werk in der Bearbeitung von 1996, im Rahmen des 18. Festivals „euro-scene“ in Leipzig, an zwei Abenden vor restlos ausverkauftem Haus zu sehen. Nadjs taumelndes Theater findet in einer Art Karton statt. Es braucht keine Worte. Die „Wunde Woyzeck“ schmerzt, der Schrei ist im Raum. Die Stille der Figuren in den mit Ton und Lehm beschmierten Kostümen mit ebenso beschmutzten Gesichtern ist von bohrender Intensität. Sie taumeln und wackeln zwischen Leben und Tod in der Enge des mit mancherlei Gerümpel und Gerassel vollgestellten Raumes durch die stummen Episoden der Passion des Soldaten Woyzeck und seiner untreuen Geliebten Marie. Alles wie in einem Panoptikum. Der Doktor mit seinen Experimenten an lebenden Menschen, der zynische Hauptmann, der zum Hengst aufgezäumte Tambourmajor, Woyzecks Wahn unterm Mond am Himmel, der ein blutig Eisen ist, alles in der Enge einer Welt, die auf dem Kopf steht wie ein umgestürzter Hafen.

Nadj versteht es, Büchners Worte in den Raum zu stellen, allein durch die hilflosen Bewegungen seiner komischen Menschen, oder durch ein so einfaches wie geniales Bild, wenn die arme Marie den süßen Vogel Freiheit im Käfig auf der Brust trägt. Diese Woyzeck-Partitur läuft unaufhaltsam wie ein Uhrwerk vor unseren Augen, zu einer Musik aus Bach, Couperin und Folklore, gesetzt für das Zigeunerinstrument Zimbal, dessen gespannte Saiten geschlagen werden. Die Musik, verrauscht und verzerrt, kommt aus einem alten Radio im Mobiliar dieser Behausung in der Tiefe des Abgrunds existenzieller Vergeblichkeit. Dabei ist der Blick des Josef Nadj auf seine Geschöpfe ohne Grimm. Im Gegenteil, man meint auch immer wieder wisperndes Lachen, kindliches Kichern zu vernehmen. Manchmal drängt sich der Verdacht auf, es ist überhaupt der kindliche Blick auf die Figuren dieses Panoptikums, und das, was den Erwachsenen tragisch erscheint, mögen Kinder komisch finden, und sich mit dem Kapitän dieses Geisterschiffes, dem Narren, der als einziger unmaskiert dabei ist, verbünden.

Nach einer Stunde taumelndem Tanz auf des Messers Schneide, den die sieben wunderbaren Protagonisten in größter Zärtlichkeit vollführen, gehen wir gar nicht so unglücklich heraus aus dieser zwar leicht ächzenden aber immer noch verlässlich funktionierenden Maschinerie des Unglücks. Nadj hat es vermocht, Georg Büchners angeschrammte Weltschmerzler aus den geschlossenen Gesellschaften der Komödienreiche Popo und Pipi in „Leonce und Lena“ in ihrer Seelenverwandtschaft zu den unsterblichen Brachialkomikern der Typentragödie vom Woyzeck zu entdecken. Er legt sie badagiert und verschmiert mit Lehm und Ton wie den Lazarus in den Karton und kann zu jeder Zeit, Kraft seiner Liebe und der Lust am Spiel mit Tod und Leben, die scheinbar Toten zum Leben erwecken.

Nachsatz: Nach der Aufführung wird zu einem Publikumsgespräch eingeladen. Sehr viele junge Interessenten folgen der Einladung. Die kommunikationsfeindliche Einrichtung des Raumes mag logistischen Zwängen geschuldet sein. Dass aber die Moderatorin, Nele Hertling, überhaupt nicht daran denkt, zu moderieren, ja dass nicht mal wahrnimmt, dass sich daher langsam aber sicher der Raum leert, ist nicht zu verzeihen. Frau Hertling fragt, Herr Nadj antwortet. Das Publikum hat zuzuhören. Will es aber nicht. Es hätte ja auch Fragen, Beobachtungen, Assoziationen einzubringen, wird aber weder dazu eingeladen noch ermuntert. Zwei mal nur in einer Stunde, halbherzig zudem, wird die inzwischen stark dezimierte Runde geöffnet. Da ist die Stimmung hin. Schade.

www.euro-scene.de

 

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