Der Anteil des Tanzes an der Menschwerdung des Affen

„Stolpern, nicht stürzen“ heißt der neue Abend des Tanztheaters Görlitz

Görlitz, 07/12/2008

Der Anfang ist meditativ. Im Halbdunkel, auf der Bühne des Görlitzer Theaters, leicht bewegt, die ganze Gruppe des Tanztheaters als ein Körper aus denen der neun Tänzerinnen und Tänzer der Kompanie unter der Leitung von Gundula Peuthert. Stille. Das muss man aushalten, man wird es nicht bereuen. Dann, wenn die Vereinzelung erst vorsichtig und immer stärker beginnt, Musik. Klage. „Erbarme dich“ aus Bachs Matthäus-Passion. Die Tänzerinnen und die Tänzer in einem Akt der Schöpfung, der Belebung, der Menschwerdung. Mit dem Atem dieser Musik beginnen die Bewegungen stärker zu werden, abwärts, vom Kopf und den Schultern, die Arme der Oberkörper und schließlich der ganze Mensch. Und wieder, im Versuch der synchronen Bewegungen, die Sehnsucht nach der Verbindung, der Rückversicherung. Aber schon steht eine Tänzerin der Gruppe gegenüber.

Dann unterschiedliche Zuordnungen, zu zweit oder zu dritt. Das Lebensspiel beginnt. Stolpern und Stürzen inbegriffen. Das Training des aufrechten Ganges, der Kampf mit Gleichgewicht und den Gesetzen der Schwerkraft, die Tücken der Hilfe und die Tücken der Behinderung. In den Abläufen bilden sich immer wieder Gruppenkonstellationen, ganze Stolper- und Sturzgruppen, Sturzhelfer und Sturzverhinderer sind zur Stelle. Spiel und Ernst im unmerklichen Übergang. „Stille Post“ für Tänzer. Verknotungen, Prozessionen, Zärtlichkeit und Vereinzelung, bei denen die Körper im wahrsten Sinne des Wortes wie von unsichtbarer Hand hin- und hergerissen werden, blitzartig durchzuckt. Auf der Bühne, in der Ausstattung von Karen Hilde Fries, bei den Kostümen Schwarz- und Grautöne. Die Szene durchweht Tristesse. Es kommt zu kuriosen Bildern. Wenn alle verquickt sind ist keiner frei.

Bei den Sturz- und Stolpertheorien, die mitunter zu trockenen Texten demonstriert werden, stellt sich irgendwann die Frage: Tanzen oder Reden. Umso mehr, weil alle neun Protagonistinnen und Protagonisten Tänzer mit Individualität und technischem Können sind, aber nicht so sehr gute Sprecher. Alles was gesagt wird können sie bestens in Tanz, Bewegung und Bilder verwandeln. Natürlich ist irgendwann klar, spätestens wenn der zweite Teil des Abends auf der weißen Bühne ganz rasant sinnlich vonstatten geht, dass dem „Erfolg“ die Mühen vorangestellt sind. Nur so lassen sich die Zitate von Übungen aus dem Workshoprepertoire der Raumerkundungen und des Gleichgewichtstrainings mit performativem Anspruch verstehen. Tanzen hilft. Reden nicht. Nach der Pause Theater.

Der rote Vorhang öffnet sich, die Bühne ist hell, Weiß herrscht vor, die Kostüme sind angeglichen, aber ganz ist die Grundierung vom ersten Teil nicht abgelegt. Jetzt also alles noch einmal. Ohne Worte. Nur getanzt. Wunderbar. Alles so schwebend wie die Musik des Violinkonzertes „Distant light“ von Peteris Vasks. Wieder das Stolpern, wieder die Stürze, die Gruppe und die Gruppen, der Körper und die Körper, das Gleichgewicht und sein Verlust, die Verquickung und die Prozession. Aber unmerklich fast, wie erlöst, bricht sich Heiterkeit in tänzerischen Sequenzen Bahn zu den scherzoartigen Passagen der Musik, deren meditative Stimmung grundsätzlich aber den assoziativen Bogen zum Beginn spannt und anklingen lässt. Und es ist eine sehr ernste Schönheit darin, wenn Gundula Peuthert die Tänzerinnen und Tänzer in die Freiheit der Musik entlässt, das ist sogar romantisch, ein wenig traurig bleibt es auch, und vor allem, es unterhält. Dafür gibt es am ersten Abend nach der Premiere vom so aufmerksamen wie konzentrierten Publikum viel herzlichen Beifall für Simone Rabea Döring, Jenny Ecke, Antoinette Helbing, Polina Ogryzkowa-Müler, Sebastian Fidor, Jan Hodes, Piotr Ozimkowski, Harald Wink und Wagner Moreira.

www.theater-goerlitz.de

 

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