Anarchische Formenjagd

Sasha Waltz’ fruchtbare Begegnung mit dem musikalischen Universum von Wolfgang Rihm

Berlin, 26/11/2008

Am Anfang stehen zwei Violinen. Hektisch, dissonant hüpfen die Klänge durch den Raum, scheinen einander zu jagen, auf der Suche nach einer Form. Zwei Tänzerinnen stehen auf, reagieren mit neurotisch anmutenden Gesten – abgespreizte Finger, Kopfnicken, zuckende Arme – auf den Parforceritt der Instrumente. Wolfgang Rihms „Jagden und Formen” ist eine Ausnahmeerscheinung in der zeitgenössischen Musik. Zwölf Jahre lang hat der Komponist an dem nur 50-minütigen Werk gearbeitet, in dem sich in organischen Wucherungen Elementarkräfte auftürmen und Soloinstrumente ein schier unkontrollierbares Eigenleben führen. Wie Rihm selbst betont, schafft er „Musik aus physischen Impulsen”, über der stets eine „orgiastische Hintergrundspannung” dräut, also eine Sinnlichkeit, die wie geschaffen für die tänzerische Umsetzung scheint.

Unterstützt von den Interpreten des Ensemble Modern hat sich Sasha Waltz an Rihms anarchischen Klangkosmos gewagt und ihm überraschend schlüssige Formen abgerungen. Zwar verwendet die Choreografin auch hier das sattsam bekannte Vokabular aus Körperverschlingungen, rennenden Gruppen, Geschlechterkämpfen und schwerelos anmutenden Hebefiguren, das ihren Weltruf ausmacht, doch stellt sie es respektvoll in den Dienst der Musik. Fast scheint es, als hätte Waltz ihre eigene Sprache dekonstruiert und die Elemente einer eigendynamischen Wucherung überantwortet.

Einziger Schwachpunkt von „Jagden und Formen” ist die allzu brave Raumdramaturgie der Aufführung. Während Tänzer und Musiker zu Anfang fein säuberlich voneinander getrennt sind, brechen nacheinander zwei Klarinettistinnen aus dem Orchester aus. Eine von ihren wird von einer Dreiergruppe wie eine Marienstatue umhergetragen. Auf dem Höhepunkt der Komposition kommt es zur Fusion: Tänzer und Musiker sinken gemeinsam zu Boden, verschmelzen zu einem Haufen von Leibern, der dann langsam unter zärtlichen Streifbewegungen auseinandergleitet. Mag dies auch dramaturgisch etwas schematisch anmuten, so geschieht es doch mit einer geradezu organischen Selbstverständlichkeit. Zum Abschluss rennen ein Mann und eine Frau wütend gegen die Gruppe der anderen Tänzer an, der Klang ballt sich ein letztes Mal zusammen und verebbt unspektakulär. Danach verlassen alle Akteure gemeinsam die Bühne.

Die unablässigen Zyklen der Verfestigung und des Zerfalls finden in der tänzerischen Bewegung ein kongeniales Echo. Im Gegensatz zu ihren Großproduktionen setzt Waltz hier niemals auf Effekte. So wie sich aus den gewitterartigen Klimazonen der Komposition immer wieder Alleingänge der Solisten herausschälen, lösen sich Tänzer aus der Gruppe, zerschlagen die Form, bevor ein allzu gefälliges Bild entsteht und geben sich in hemmungsloser Körperrotation bewusst dem Kontrollverlust hin.
Der hochkonzentrierte Nicola Mascia – ein Waltz-Tänzer der ersten Stunde -, der atemberaubend elastische Edivaldo Ernesto und die traumwandlerisch präsente Yael Schnell setzen ihre Körper vollkommen uneitel wie virtuose Instrumente ein. Hauptfigur des Abends ist jedoch die androgyne Renate Graziadei, die im Wechsel zwischen formaler Strenge und koboldhaftem Ausbruch den Titel des Abends – „Jagden und Formen” – fast im Alleingang auf den Punkt bringt. Somit ist es sicherlich kein Zufall, dass Wolfgang Rihm im donnernden Schlussapplaus sichtlich gerührt seine Ehrenblume an sie weitergab.

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