Tanz auf des Messers Schneide

Uraufführungen von Martin Schläpfer und Eric Oberdorff in Mainz

Mainz, 18/05/2007

Nach den großen Sinfonien kehrt Martin Schläpfer zur Collage zurück: seinem neuen Stück „Obelisco“ gelingt das Kunststück, sieben völlig unterschiedliche Musikstile von Schubert und Operette über experimentellen Pop bis hin zur italienischen Avantgarde wie die Variationen eines einzigen Gedankens erscheinen zu lassen. Vor einer Uraufführung von Eric Oberdorff und der Wiederaufnahme des Kurt-Jooss-Klassikers „Der grüne Tisch“ eröffnet das wie in Trance versunkene „Obelisco“ das „Programm XXIV“ des Mainzer Balletts.

Die Steinnadel aus dem Titel bleibt einzig in der Liebe zur Mittelachse erkennbar, in der senkrechten Balance, die immer wieder gehalten oder gesucht wird. Das Stück vereint die disparaten Musiknummern ebenso organisch wie die unterschiedlichsten Fußbekleidungen: Getanzt wird in Schläppchen, Spitzenschuhen, High Heels oder barfuß. In Thomas Zieglers durchaus zweideutigen Kostümen - alle Tänzer tragen kurze, in abendlichem Cocktail-Schick glitzernde Trägerhemdchen - sehen die Männer wie Drag Queens in Unterwäsche aus. Von hoch oben aus dem Bühnenturm hängen lange, dünne Schnüre, an denen glitzernde Pailetten eine funkelnde Nacht evozieren; in anderer Beleuchtung wirken sie wie Seile an einer Kerkerdecke.

Schon das Bühnenbild balanciert auf der Kippe. Zum psychedelischen Popgesang von Rickie Lee Jones beginnt das Stück mit einer glücklich bekifften Partygesellschaft, die sich trotz allem ichversunkenen Taumel der Einzelnen immer wieder zu kleinen Polonaisen im Laufen oder im Sitzen findet. Zu Salvatore Sciarrinos wütenden Geigenglissandi ziehen dann zwei Paare im aufreizenden Adagio ihre Linien, die Männer dienen dabei als Stützen der Frauen. Nach einem Solo auf Schubert wird es bei Scarlatti schnell und athletisch, zu einer Klavierfantasie von Mozart entsteht Spannung zwischen Solisten und der Gruppe. In einer siebenminütigen Tour de Force auf Spitze kreiselt dann Marlúcia do Amaral zu Streichermusik Giacinto Scelsis über die Bühne; sie balanciert, kippt grotesk auf die Fußkanten und tappt zuletzt wie ein Tier auf allen Vieren, die Füße immer noch hartnäckig auf Spitze. Der Kult der Mittelachse - lange Zeit sind ihre Port de bras vollkommen symmetrisch - bricht nach und nach ein, die Symmetrie wird windschief.

Zum Abschluss staksen Yuko Kato und Jörg Weinöhl in verstörend hohen schwarzen Pumps auf die Bühne und jagen sich gegenseitig trippelnd herum - ein Party-Paar, das „Im Chambre séparée“ unbedingt zueinander finden will und durch die künstliche Höhe daran gehindert wird, das Herz rührend mit seiner grotesken Sehnsucht.

Aus der Uraufführung, die immer wieder kurz in reine, unverfälschte Ballettposen zurückfällt, ragt als eigenwilliges Meisterwerk der dritte Teil heraus, ein lyrisches Solo für den sensiblen, starken Bogdan Nicula zum Schubert-Lied „Du bist die Ruh“. Hier bildet der Tanz die Musik nicht ab, sondern führt einen Dialog mit ihr, lauscht tief in sie hinein, ergibt sich trauernd ihrer Melancholie, verweigert sich ihr still daliegend und kämpft durch unerträglich ausgehaltene Spannungen mit ihr. Mit den sparsamsten Bewegungen und großer Ausdruckskraft entspinnt sich ein zwingender, zweifelnder Monolog von der Größe des „Adagietto“-Solos von Maurice Béjart.

Schnüre hängen auch bei Eric Oberdorff von der Decke - bühnenbreite, dichte Vorhänge aus weißen Kordeln, deren Changieren durch darüberstreichende Tänzerhände an Keersmaekers „Rain“ erinnert. Dazu gibt es kurze, verstörende Videoprojektionen und Spracheinspielungen vom Band, immer wieder den gleichen Text über die titelgebenden „Little Voices in My Head“, dann eine an- und abschwellende babylonische Sprachverwirrung, das Murmeln selbiger Stimmen in den Köpfen der zehn Tänzer. Die Auftragskomposition des Franzosen Anthony Rouchier geht von wummernder Elektronik in ein endlos wiederholtes Trauermotiv aus Griegs „Peer Gynt“ über. Mit ihren schicken Bermudahosen wirken die Tänzer wie Werbeträger für Benetton im Irrenhaus; sie werfen sich so intensiv in ihre meist unabhängig nebeneinander stattfindenden Solos, dass man nie sicher sein kann, ob die Choreografie nicht vielleicht doch ihre Improvisation ist.

Sehr viel konkreter wird es zum Schluss mit „Der grüne Tisch“ von Kurt Jooss, dem Klassiker von 1932. Die Mainzer tanzen die marschierenden Soldaten, die klagenden Frauen, die schmierigen Bürokraten und den martalisch bemalten Tod klar und prägnant, eher der sachlichen Choreografie verpflichtet als dem expressionistischen Inhalt oder der dämonischen Studie des Kriegs. Wieder vereinigt Martin Schläpfer drei sehr unterschiedliche Stile in einem Ballettabend; gerade das alte Jooss-Stück gemahnt mit seiner im schönsten Sinne einfachen Choreografie daran, wie weit sich die intellektuellen, hochkomplexen Werke der Zeitgenossen doch von einer solchen direkten Verständlichkeit entfernt haben, wieviel sie ihren Zuschauern abverlangen.


Link: www.staatstheater-mainz.de

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