Musikalisch, choreographisch und tänzerisch großartiges „Lied von der Erde“

Das Bayerische Staatsballett eröffnet seine Ballettwoche mit Kenneth MacMillan plus Minimal Dance von Lucinda Childs

München, 01/05/2007

Würde dieses Programm der konzipierten Gegensätze funktionieren, würde die postmoderne Choreografie mit der Verweigerung aller Emotionen durch die Sogkraft ihrer dynamischen Bewegungsmuster eine Beschwingtheit der Zuschauer bewirken, ehe die zweite Hälfte mit Gustav Mahler die Tiefen der Seele auslotet? Zunächst einmal musste für Lucinda Childs „Chamber Symphony“ die gleichnamige minimalistische Komposition von John Adams mit der richtigen Färbung und rhythmischen Triebkraft erklingen, und das gelang unter Ryusuke Numajiri, der auf Empfehlung von Kent Nagano erstmals das Bayerische Staatsorchester leitete, sehr gut. Im 1. Satz beginnen weibliche und männliche Trios und Duos allmählich ein geometrisches Netz aus repetitiven Sequenzen von Querläufen und Diagonalen auszubreiten. Während ein senkrechter Stab, der von links nach rechts den netzartigen Bühnenhintergrund quert, die mathematische Optik verstärkt, sorgt ein erster Pas de deux mit seinen Richtungswechseln für Konzentration.

Der 2. Satz für zwei Hauptpaare weckt mit ruhigen und häufigen Wiederholungen von Gängen und Richtungswechseln Aufmerksamkeit für deren unmerkliche Modifizierung. Allmählich werden die aus wenigen Schrittmaterialien gebauten Strukturen klar. Natalia Kalinitchenko und Norbert Graf, hervorragend in den Verlangsamungen, in Formbewusstsein, Musikalität, Beschleunigung und Eleganz, gingen mit spannender Bewegungsqualität über das von Childs konzipierte Gleichmaß des formalen Kontinuums hinaus und setzten im Mittelsatz poetische Akzente. Zusammen mit dem ihnen gut korrespondierenden Paar Zuzana Zahradnikova und Roman Lazik hielten sie die Aufmerksamkeit der Zuschauer gebannt.

Im 3. Satz, „Roadrunners“, hoben vor weißen horizontalen Linien und orangem Hintergrund wiederholt hineinstürmende Trios und Duos die seitlichen Grenzen des Bühnenraums auf, und die quer und diagonal gelaufenen Bahnen mündeten in ein schönes Finale dynamischer Kaskaden. Das knapp 25-minütige Stück, tänzerisch noch nicht ausgereizt, weil einige Tänzer ihrer Instrumentalisierung noch nicht mit dem Bewusstsein derselben begegneten, entfaltete auch dank des Bühnenbilds und der Kostüme von Ronaldus Shamask eine zwar inhaltsleere, aber über Childs rein strukturelle Spielereien hinausgehende Attraktivität.

In seinem vor fast genau 100 Jahren komponierten „Lied von der Erde“ verband Gustav Mahler seine eigene Naturerfahrung mit dem Text von sechs Gedichten, die er aus dem 1907 publizierten Band „Die chinesische Flöte“ auswählte, der freien Übertragung einer Sammlung chinesischer Volksdichtung, über die deren Übersetzer Hans Bethge sagte: „Ich blickte in eine von Bildern ganz erfüllte Kunst der Worte, die hinableuchtete in die Schwermut und die Rätsel des Seins.“ An Bruno Walter, unter dessen Leitung seine große Liedsymphonie 1911 in München uraufgeführt wurde, schrieb Gustav Mahler: „Für meine innere Bewegung brauche ich die äußere“, und verband in seinem „Lied von der Erde“ mit der Schwermut angesichts des Todes die Heiterkeit mancher Lebensmomente sowie die Überwindung des Todes durch deren ewigen Kreislauf.

Kenneth MacMillan realisierte seine choreografische Umsetzung dieses musikalischen Gipfelwerks zunächst 1965 in Stuttgart und griff dabei zugleich Geistesströmungen des beginnenden 20. Jahrhunderts auf. Die von ihm geschaffenen Hauptrollen von Der Mann, Die Frau und Der Ewige verweisen auf das Trinitätsprinzip der sich damals konstituierenden Psychologie, und die choreografische Ausdehnung auf ein 16-köpfiges Ensemble hebt individuelle Begebenheiten auf die Ebene der Allgemeingültigkeit. Innen und Außen. So etwa die Vorgaben, die es für das Bayerische Staatsballett zu verlebendigen galt.

Zum beglückenden Gelingen dieser Herausforderung trug viel das sensible und vollvolumige Spiel des Bayerischen Staatsorchesters unter der präzisen Leitung Ryusuke Numajiris bei, viel auch der Tenor Kevin Conners und besonders Stimme und Ausdruckskraft der Mezzosopranistin Daniela Sindram. Ihr „Ewig, ewig!“ der von Mahler selbst hinzugesetzten Schlussverse blieb noch lange stimmungsprägend im Ohr. Die Leistung der von Grant Coyle und Donald MacLeary sowie den Münchner Ballettmeistern Gamal Gouda, Judith Turos und Cherie Trevaskis einstudierten Tänzer schließlich schuf eine vollendete Einheit mit dieser bisher vielleicht größten musikalischen Dimension im Münchner Ballett.

Schon im „Trinklied vom Jammer der Erde“ setzten sieben Männer mit ausdrucksstarker Geschlossenheit und figuralen Gruppenbildern meditative Akzente. Tigran Mikayelyan als Der Ewige (im Englischen: Messanger of Death) bewährte von Anfang an seine intuitiv starke Bewusstseinslinie, mit der er das ganze Stück tänzerisch brillant als starker Bezugspunkt begleitet und die Schlüsse der einzelnen Lieder dominiert. In „Der Einsame im Herbst“ beeindruckte Lucia Lacarra, kaum dass Die Frau aus dem Kreis von vier präzise tanzenden Paaren und drei Halbsolistinnen hervortrat, dadurch, wie stark sie sich das Idiom MacMillans zu eigen machte.

Die beiden Mittelsätze „Von der Jugend“ und „Von der Schönheit“ zeigten dann eine zauberhafte fernöstliche Heiterkeit in Musik wie Choreografie mit der verspielten Roberta Fernandes, ehe sich die Bewegungen von sieben Frauen, auch in ihrer Abstraktion leicht als konkretes Geschehen erkennbar, in die Wiedergabe ihrer inneren Stimmung fortsetzten. Dabei überzeugte als vordere Halbsolistin die anmutige Sophia Carolina Fernandes auch im Duett mit Juan Eymar, der an der Spitze von sieben Männern aufgetaucht war, wodurch sich in zwei diagonal angeordneten Feldern die Spannung zwischen den Gruppen beider Geschlechter eindrucksvoll auftat, schön und leicht geschlossen wurde, doch wieder gemahnte Der Ewige an die Grundlagen unserer Existenz.

Als „Der Trunkene im Frühling“ uns Den Mann (Roman Lazik) mit zwei Freunden und Dem Ewigen trotz tänzerischer Brillanz in witziger Betrunkenheit vorführt, hat MacMillan längst gewonnen: in dem Sinn, dass das Publikum jetzt seinen Tanz als Umsetzung von Musik und Text zu lesen weiß und vor dem anerkanntermaßen ernsten Hintergrund auch seinen Humor genießt. Und das ist die außergewöhnliche Qualität seiner Choreografie: Im fließenden Übergang führt sie ein beinahe anekdotisches Geschehen über in das Geschehen im Inneren der Seele.

Ergreifend wird dies im ungeheuren Schluss-Satz. Die melancholische Grundstimmung von „Der Abschied“ findet u. a. Ausdruck in der konzentrierten Führung der vier Paare, durch deren wiederholtes Auftauchen und Verschwinden die Einsamkeit der bleibenden Protagonistin immer eindringlicher wird. Dabei wurde die Bühne zum geistigen Raum für die Einheit von Innen und Außen, von Tanz und Musik. Und Lucia Lacarra wurde zum Ereignis! Im Kontext ihrer Interpretation wuchs Roman Lazik zum energischen Partner, der kurzzeitig den Todesboten verdrängte. Der Pas de deux beider geriet zur exemplarischen Visualisierung tiefer existentieller Erfahrung. Das setzte sich, als Der Ewige hinzukam, fort.

Das gesamte Ensemble realisierte mit Hingabe diese große Dimension eines Meisterwerks britischer Choreografie, an dessen Ende eine emotional völlig verausgabte Lucia Lacarra so glücklich wie das Publikum war. Mit seinem Kampf um Kenneth MacMillans „Das Lied von der Erde“ erzielte Ivan Liska zum Ballettwochen-Auftakt einen großen Erfolg, auch wenn daneben die Wiederaufnahme von „Chamber Symphony“, trotz seiner guten Ausführung und seinem festen Platz in der Postmoderne des Tanzes, wie eine entbehrliche Nebensache erscheint.

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